Morgengruß von Helmut Harff: Grenzenloser Jubel

Mir tun noch die Hände weh…

Gesten – es war der heißeste Tag in Berlin, den es dort seit langem gegeben hat – hatte ich einen Termin in der hauptstädtischen Philharmonie. Unter dem Motto „Midnight Sun“ präsentierte die Baltic Sea Philharmonic vor allem zeitgenössische Musik aus Finnland, Estland, Norwegen, Lettland, Russland und Deutschland.

Um es gleich zu sagen: Ich habe so ein Konzert noch nie in meinem nicht gerade konzertarmen Leben erlebt. Das lag nicht nur an der präsentierten Musik. Es lag vor allem daran, wie die Baltic Sea Philharmonic und ihr Dirigent Kristjan Järvi den Abend gestalteten. Im Programmheft heißt es dazu: „Kreative Freiheit, Risikobereitschaft und Innovation bilden den Kern von Kristjan Järvis Arbeit mit dem Baltic Sea Philharmonic“.

Alles klar? Nein, ganz und gar nicht. Wenn man den Abend politisch unkorrekt mit einer Frau vergleicht, so gibt es Frauen, die sehen so toll aus, dass sich alle nach ihnen umdrehen. Und dann soll es  Frauen geben, da vergisst man einfach alles – selbst das Umdrehen. Solche Frauen sieht man aber maximal einmal im Leben.

So ist das mit dem Baltic Sea Philharmonic und so ist das mit Kristjan Järvi. Das fängt schon vor dem Beginn des Konzerts an. Normalerweise sitzt da ein Orchester, stimmt die Instrumente und dann kommt unter Applaus der Dirigent. Nichts davon passierte gestern Abend in der Berliner Philharmonie. Überall im Saal standen Violinisten. Die taten etwas, was wie das Stimmen der Instrumente klang. Dabei strebten sie langsam und voller Ruhe dem Orchesterpodium zu. Langsam kamen die anderen Musiker dazu. Irgendwann tauchte auch der Dirigent auf und los ging es.

Auffällig war, dass es überhaupt keine Notenpulte gab. Alle spielten alles aus dem Kopf – und das nonstop 100 Minuten. Ja, es gab keine Pausen zwischen den Stücken. Man merkte nur, dass jetzt das nächste Stück kam an der anderen Musik und daran, dass Orchestermusiker ihre Positionen wechselten. Ich habe noch nie ein so bewegliches, ja choreografiertes Orchester wie das Baltic Sea Philharmonic erlebt.

Das dabei auf höchsten Niveau musiziert wurde, versteht sich von selbst. Das galt auch für den Gast, für die Violonistin Mari Samuelsen. Mir kam sie häufig wie eine dämonisch spielende nordische Rachegöttin vor. Ich versöhnte mich mit ihr erst bei ihrer lyrischen Zugabe.

Ich war nach 100 Minuten Konzert ohne Pause, ohne Applaus und ohne Räusperer im Publikum gespannt, wie es nach dem Konzert reagiert. Es war überwältigend. Es gab stehende Ovationen – von allem in der nahezu ausverkauften Philharmonie. Der Jubel kannte keine Grenzen – meiner auch.

Wie gesagt, so ein Konzert durfte ich noch nie in meinem Leben erleben. Doch wirklich zu beschreiben, was da auf der Bühne passierte, das ist mir schlicht nicht möglich, das muss man einfach erleben. Das kann auch keine Konserve liefern. Ich würde gern erleben, wie die Konzerte am 29. Juni in Ossiach/Österreich oder am 2. Juli in der Hamburger Elbphilharmonie verlaufen. Schließlich sind alle Säle völlig anders als der Saal im Berliner Scharoun-Bau.

Haben Sie die Gelegenheit dazu, lassen Sie die keinesfalls vorüber gehen. So ein Konzert werden Sie sicherlich nie vergessen.

Ach ja, ich fand auch toll, dass die Harfe mal nicht an der Seite stand, sondern den Mittelpunkt des Orchesters bildete. Warum? Harff und Harfe – da gibt es eine ganz besondere Nähe.

So, nun darf ich vor lauter Jubel nicht das Frühstück vergessen.

Ihnen wünsche ich ein genussvolles Frühstück.

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