Ganz schön schräg

... die Yamaha Niken GT

(Jens Riedel, Auto-Medienportal.Net) Dreirad-Roller mit Neigetechnik erfreuen sich schon seit einigen Jahren gewisser Beliebtheit. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis dieses Fahrzeugkonzept auch auf ein Motorrad übertragen wurde.

Yamaha hat als erster – und bislang immer noch einziger – Hersteller diesen Schritt unternommen. Dabei sind die Vorteile nicht von der Hand zu weisen, und dank des wie ein Parallelogramm geführten Vorderrad-Duos geht das typische Zweiradfeeling nicht verloren. Yamaha kennt das Prinzip schon von seinem Leichtkraftroller Tricity – im Prinzip. Eine 850er auf drei Räder zu stellen erfordert aber natürlich noch einmal umfangreiche technische Anpassungen.

Die Rechnung ist ganz einfach: Drei Räder bringen mehr Aufstandsfläche als zwei. Das erhöht nicht nur den Grip insbesondere bei schlechterem oder feuchterem Untergrund, sondern sorgt vor allem beim Bremsen für ein deutliches Plus. Und das gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen werden mehr Verzögerungskräfte auf die Straße gebracht, zum anderen greift der Fahrer im Vertrauen auf die höhere Fahrstabilität deutlich beherzter zu. Untersuchungen haben gezeigt, dass Motorradfahrer im Schnitt im Fall der Fälle nur etwa 60 Prozent der möglichen Bremsleistung ihres Zweirads auch tatsächlich abrufen.

Leaning-Multi-Wheel-Technologie nennt sich Yamahas doppelte Vorderradführung mit Schräglagenfähigkeit. Die beiden 15-Zoll-Vorderräder sind jeweils an zwei außen angebrachten Upside-down-Rohren leicht unterschiedlicher Dimension befestigt. Ein Holm führt das Rad, der andere ist für die Federung zuständig. Ein Parallelogramm-Gestänge führt dann alles zusammen und erlaubt bis zu 45 Grad Schräglage. Das ist für einen durchschnittlichen Motorradfahrer mehr als genug. In Anlehnung an Skier spricht Yamaha wegen der doppelten Spur von „Kurven-Carving“. Dabei wird das kurveninnere Rad sogar noch etwas stärker geneigt als das äußere. Im Gegensatz zum Patent bei den Rollern verfügt die Yamaha aber nicht über einen Arretierungsmechanismus zur Verriegelung des Gestänges bei aufrechter Haltung im Stand.

Wie bei Yamaha nicht selten, folgte dem Basisfahrzeug rasch eine GT-Version. Sie bietet seit diesem Jahr einen höheren Touringkomfort. Mit ihrer insektenartigen Front wirkt die Niken angriffslustig, der agressive Look wird durch die für ein Motorrad ungewöhnliche Breite zusätzlich verstärkt. Der Kühlergrill ist deutlich größer als bei einer MT-09, von der der 847-Kubik-Dreizylinder stammt, da die beiden Räder natürlich weniger Luft vorbeilassen als ein einzelnes Vorderrad.

Ohnehin hat die Niken einen recht mächtigen Vorderbau, dessen Gewicht der Fahrer durchaus leicht spürt, denn vorne liegt deutlich mehr Last auf der Niken GT als hinten. Mit 267 Kilogramm Fahrgewicht ist die Fuhre ansonsten aber nicht ganz so schwer wie man vermuten sollte. Der breite Tank fällt mit einem Volumen von 18 Litern allerdings kleiner aus als er aufgrund der wuchtigen Front aussieht. Trotz des Mehrs an Bauraum ergeben sich da nur durchschnittliche Reichweiten. Dafür bieten die weit nach außen stehenden Blenden recht guten Wetterschutz.

Die höhere Verkleidungsscheibe der GT entlastet den Oberkörper auch bei Tempo 170 immer noch gut, gleichwohl sollten Langstreckenfahrer über einen Spoileraufsatz nachdenken, denn der Kopf liegt deutlich im Wind. Er ist zwar keinen Turbulenzen ausgesetzt, unter dem Helm könnte es aber auf Reisen ruhig ein wenig leiser zugehen. Was ohne allzu große Veränderungen möglich wäre, wird spürbar, wenn man den Oberkörper nur halb nach vorne beugt. Dann wird es fast windstill hinter dem Plexiglas.

Der 115-PS-Dreizylinder bellt beim Beschleunigen heiser und zieht linear hoch. Ab 6500 Umdrehungen geht es dann richtig zur Sache. Die drei Fahrprogramme – schlicht 1, 2 und 3 genannt – unterscheiden sich eher marginal und steuern vor allem die Sensibilität des Gasgriffs. In der mittleren Stufe ist man bestens aufgehoben, zumal der „Sport“-Modus ähnlich bissig arbeitet wie bei der den Motor spendenden MT-09. Gleichwohl kann Stufe 3 bei Regen nicht schaden, denn auch wenn es vorne zwei Räder gibt, beim schrägen Überfahren eines nassen Gullydeckels oder ähnlichen Stellen mit Rutschgefahr kann es die Niken trotzdem leicht versetzten – aber eben weit weniger adrenalinfördernd als wenn vorne nur ein Pneu den Kontakt zur Straße herstellen würde. Der angegebene Normverbrauch von 5,8 Litern je 100 Kilometer ist äußerst realistisch. Wir bewegten die Niken GT mit einem Konsum zwischen 5,5 und 5,9 Litern.

Absolut entspannt geht es auf langen Autobahnetappen zu. Locker lässig lässt sich die Niken per Tempomat spurtreu mit einer Hand über den Asphalt führen. Das sollte die linke sein, denn dann kann auch noch einhändig der Blinker für den Spurwechsel gesetzt werden. Viel entspannter kann man Motorrad auf längeren Strecken kaum fahren. Die hohe Spurstabilität auf der BAB sollte aber nicht automatisch zu dem Schluss führen, dass sich die Niken auch gut freihändig fahren lässt. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Zweirad lässt sich deutlich einfacher mit Oberkörper und Schenkeln dirigieren, da es bei der Yamaha immer ein Rad in eine etwas andere Spur zieht als das andere und der Vorbau im wahrsten Sinne doch recht gewichtig ist.

Im GT-Dress mit den beiden serienmäßigen 25-Liter-„Semi“-Softcases ist die Yamaha Niken nicht nur für den täglichen Arbeitsweg gut gerüstet, sondern auch für den Wochenendtrip von Hause aus bestens vorbereitet. Zu den spezifischen Tourenzutaten zählen neben der höheren Scheibe integrierte Soziusgriffe am Trägersystem, eine Komfortsitzbank und der Hauptständer sowie ein zweiter und gut erreichbarer 12-Volt-Anschluss neben dem Cockpit.

Lob verdient Yamaha für das Bedienkonzept. Es ist simpel und gut aufgeteilt, mit Ausnahme der bei der GT serienmäßigen dreistufigen Heizgriffe, deren Bedienung nicht auf Anhieb zu finden ist. Die Einstellung erfolgt über den Menü-Knopf des Instrumentendisplays. Umgekehrt hat es Yamaha dem Nutzer mit der dreistufigen (einschließlich „Off“) Traktionskontrolle mit einer separaten Taste umso einfacher gemacht. Andersherum wäre in diesem Fall eventuell sinnvoller.

Yamaha bewirbt die Niken GT dank des dritten Rads und der Komfortmerkmale als Ganzjahresfahrzeug. Ganz so weit würden wir nicht gehen, aber die Saison lässt sich mit ihr ganz sicher deutlich verlängern. Einen Nachteil hat das Dreirad-Konzept allerdings doch. Allem sonstigen Witterungsschutz zum Trotz: Die Stiefel liegen auf einer Achse mit den – offensichtlich nicht ohne Grund sehr weit heruntergezogenen – Vorderkotflügeln, deren Spritzwasser gerne bei Regen vom Fahrtwind genau auf die Füße gewirbelt wird. Darauf sollten sich Tourenfahrer einstellen.

1000 Euro extra verlangt Yamaha für die GT. Damit unterbietet sie trotz des höheren technischen Aufwands immer noch etliche andere Tourer. Doch die dritte Macht am Krad dürfte viele Motorradfaher immer noch abschrecken – zu unrecht. (ampnet/jri)

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