(Michael  Kirchberger, Auto-Medienportal.Net) Oh Vincenzo, was haben sie Dir  angetan? Der italienische Autofanatiker, der 1906 unter seinem Namen die  Marke Lancia gegründet hat, würde sich im Grabe drehen, wenn er auf die  vergangenen Jahre seines ehemaligen Unternehmens zurückblicken könnte. 
Aber  jetzt keimt ein Fünkchen Hoffnung. Nachdem Lancia außerhalb Italiens  nirgendwo mehr präsent ist und auch in der Heimat nur noch mit dem  Kleinstwagen Ypsilon, erwarteten Beobachter das baldige und beinahe  schon erlösende Ende der Marke.
Die neuen Verknüpfungen zwischen  Fiat Chrysler und PSA (Citroën, DS, Opel und Peugeot) unter dem Dach des  Autokonzerns Stellantis führen zu einer Neuordnung der insgesamt 14  Marken der Gruppe, die 410.000 Menschen einen Arbeitsplatz bietet. Und  vielleicht bekommt die Traditionsmarke dort doch noch eine Zukunft.
Mit  einem voraussichtlichen Absatz von acht Millionen Fahrzeugen, dürfte  sich die Markenkrake nach dem Zusammenschluss noch vor General Motor  (6,3 Millionen Fahrzeuge) und hinter Toyota (9,53 Millionen) sowie VW  (9,31 Millionen) auf Rang drei im internationalen Geschäft einordnen.  Daraus könnte die Chance für Lancia entstehen. Denn im gehobenen Segment  ist kaum einer der aktuellen Konzern-Mitglieder unterwegs.
Technisch von Anfang an fortschrittlich
Lancia  dagegen hatte in den Gründerjahren stets auf hochwertige Automobile  gesetzt und selbst später in den 1970er- und 1980er-Jahren mit  Sportskanonen wie dem Stratos oder dem Delta HF Integrale im Wettbewerb  auf Asphalt und Schotter gleichermaßen emsig Punkte einfahren können.  Zudem war Vincenzo Lancia ein Technik-Enthusiast. Bereits 1913 führte er  im Modell Theta (die meisten Lancias trugen Namen nach den Buchstaben  des griechischen Alphabets) unter anderem den elektrischen Anlasser ein.  Zehn Jahre später gaben im Lambda die Einzelradaufhängung an der  Vorderachse und die selbsttragende Karosserie ihr Debüt.
Die  Limousine Aurelia (ja, auch Fernstraßen des Römischen Reichs standen bei  der Taufe von Lancia-Modellen Pate) kam 1950 als erstes Automobil mit  einer Schräglenker-Hinterachse auf die Straßen. Typisch waren V-Motoren  mit einem extrem geringen, nur 15 Grad messenden Winkel zwischen den  Zylinderbänken. Die Formgebung seiner Fahrzeuge überließ Lancia meist  Spezialisten wie etwa der Carozzeria Boneschi in Mailand oder  Pininfarina in Turin. Was dazu führte, dass sich die Hautevolee ebenso  wie das Jet-Set samt Stars und Sternchen gerne im Lancia zeigten.  Hemingway, Belmondo, Caruso, Greta Garbo und Brigitte Bardot machten aus  ihrer Zuneigung zur formvollendeten Modellpalette der italienischen  Automarke keinen Hehl.
Ein Bauunternehmen als Investor
Dann  aber wurden die Zeiten rauer, die Geschäfte liefen schlecht.  Gleichteil-Strategie war ein Fremdwort und die Vielzahl  unterschiedlicher Baureihen führte dazu, dass sie sich gegenseitig die  Schau und die Kunden stahlen und daher nicht auf nennenswerte und  gewinnbringende Stückzahlen kamen. Das Geld ging aus, und Vincenzo  Lancia sah keine andere Möglichkeit das Unternehmen zu retten, als 1955  seine Anteile an den Investor Italcementi zu verkaufen. Der  Baumittelhersteller hatte nach seiner Gründung 1864 den Unterwasserbeton  für den Suez-Kanal geliefert und war hoch renommiert. Die Finanzspritze  ermöglichte aufsehenerregende Studien und Neuheiten. Die Prototypen  Florida I und II wurden ebenso beachtet wie der Oberklassewagen Flaminia  aus dem Jahr 1957. 1960 folgten die Traum-Coupés und -Cabrios mit dem  Namen Fulvia und Flavia. Besser verkauft wurden die atemraubenden  Modelle trotz der Lobeshymnen der Fachpresse und der Automobil-Experten  nicht.
1969 schließlich führte Italcementi-Chef Carlo Pisenti  Verhandlungen über einen Verkauf mit Mercedes und BMW, der damalige  Vertriebsvorstand der Motorenwerke, Paul Hahnemann, kam sogar mit dem  Vatikan ins Gespräch, der Kirchenstaat hielt damals einen Anteil von 35  Prozent an Lancia. Doch alle Interessenten wurden vom immensen  Schuldenberg abgehalten, bei der Marke einzusteigen. Erst Fiat übernahm  schließlich den Traditionshersteller für eine eher symbolische Kaufsumme  und senkte die Preise der teuren Lancia, die aber auch dann noch  deutlich mehr kosteten als die Autos von Alfa Romeo.
Ein Kleinwagen und ein Lancia mit Ferrari-Motor
Fiat  ließ die Tradition der Namensgebung nach griechischen Buchstaben wieder  aufleben und stellte 1972 mit dem Beta einen viertürigen  Mittelklassewagen vor, es folgten ein Coupé und ein Kombi, 1974  debütierte die Spider-Version. Sogar eine sportliche  Mittelmotor-Variante kam auf die Straßen. Ende der siebziger Jahre war  Lancia dann mit dem Delta und vor allem mit der kräftig verbreiterten  Sportversion Integrale flott unterwegs, die Fahrer der  Wettbewerbs-Ausführungen wurden Stammgäste auf den Siegertreppchen. Den  Roots-Lader, einen mechanischen Verdichter, führte Lancia 1982 ein, mit  der Übernahme von Alfa Romeo vier Jahre später erwuchs dem  Traditionshersteller jedoch Konkurrenz im eigenen Hause.
Neben  dem Y10, einem futuristischen wie vergleichsweise luxuriösen Kleinwagen,  der aus der Hochzeit mit der italienischen Mini-Marke Autobianchi  erwuchs, starteten weitere tiefgehende Kooperationen. Der Lancia Thema,  der 1986 aufgelegt wurde, kam bei Fiat als Croma, bei Saab als 9000 und  bei Alfa Romeo als 164 auf die Straßen. Bei Lancia selbst avancierte der  Thema als Version 8.32 zum einzigen Fahrzeug der Marke, das jemals von  einem Ferrari-Motor angetrieben wurde, der Achtzylinder hatte vier  Ventile je Brennraum, daher die Bezeichnung 8.32.
Was folgte, war  der beginnende Abgesang auf die feinen Lancia, die Versuche von  Neuauflagen und Renovierungen mit den Namen Lybra, Dedra und die  Oberklassen-Limousine Thesis sowie der erneuerte Delta waren nicht alle  erfolglos, es reichte jedoch kaum für einen gesunden Fortbestand der  Marke. Daran konnte auch Zeta (später Phedra) nichts ändern, obwohl er  damals als Derivat von Fiat Ulysse und Peugeot 806 auf der Welle der  damals immer beliebter werdenden Vans mitschwamm.
Ein tiefer Graben zwischen zwei Auto-Nationen
Als  Fiat unter der Führung des „Mannes im blauen Pullover“, des 2018 viel  zu früh an Lungenkrebs verstorbenen Vorstandschef Sergio Marchionne,  Chrysler unter sein Dach nahm, begann auch der Todeskampf der Marke  Lancia. Die Chrysler-Baureihen 300M, Sebring und Voyager wurden unter  dem Lancia-Label in Europa angeboten. Haben wollte sie keiner. Zwischen  dem amerikanischen Verständnis von Luxus und Leistung und der  „Italianita“, der italienischen Lesart der beiden Tugenden, lagen tiefe  Gräben, die auch die letzten Fans entmutigten. Bald wurde der Verkauf  eingestellt, das einzige Modell, das heute noch unter dem Namen Lancia  angeboten wird, ist der bewährte und in Italien immer noch gut  nachgefragte Ypsilon.
Doch zurück zum Anfang. Die Renaissance von  Lancia ist nach dem Zusammenschluss zweier potenter Autokonzerne nicht  unwahrscheinlich. Die neue Sortierung sieht dem Vernehmen nach Fiat und  Citroën als Anbieter der Basismobilität mit preisgünstigen  Volumenmodellen. Peugeot und Opel rangieren zusammen mit DS im  Mittelfeld, Abarth und Alfa Romeo übernehmen den sportlichen Part. An  die Qualitätsspitze soll Maserati – möglicherweise gemeinsam mit Lancia –  rücken. Was passen würde. Denn beide Marken haben eine gleich  wechselvolle, aber nie unrühmliche Geschichte vorzuweisen. Beide Namen  stehen für Fortschritt und teils bahnbrechende Erneuerungen der  Automobiltechnik, Erfolge im Motorsport und vor allem hohes Ansehen bei  den Kunden. All dies ist für Stellantis überaus erstrebenswert. Möge  Vincenzo in Frieden ruhen.
Eine Renaissance zum 115. Geburtstag?
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