THOMAS JUDISCH. HAND IN HAND

Die Exposition verbindet alte und neue Arbeiten zu einem Parcours

Wenn der Bildhauer und Konzeptkünstler Thomas Judisch zu Gast ist, scheint es fast so, als sei man in einer Gruppenausstellung, so divers ist die Wahl der Materialien und Formensprache. Und dennoch zieht sich ein roter Faden durch sein Werk, denn alles bedingt sich, baut aufeinander auf und lässt Querverbindungen zu familiären Nachbarschaften erkennen.

In seiner bisher größten institutionellen Ausstellung „Hand in Hand“ verbindet er alte und neue Arbeiten zu einem Parcours, der seine Bandbreite der letzten sieben Jahre zeigt und die Freude an unterschiedlichsten Medien und Materialien offenlegt. Zu sehen sind raumgreifende Installationen und Objekte u.a. aus Bronze, Stoff und Papier, neben einer sehr persönlichen Videoarbeit.

Hand in Hand? Dürfen wir bei diesem Ausstellungstitel an ein harmonisches Miteinander denken? Oder soll uns vielmehr das Sprichwort „Eine Hand wäscht die andere“ in den Sinn kommen, eine Umschreibung für undurchsichtige, korrupte Geschäfte? Und wenn wir uns eine Arbeit der Serie Hand in Hand von Thomas Judisch ansehen – ein Gipsabguss sechs aufeinanderliegender aufgeblasener Hygienehandschuhe – so erinnern wir uns an ein Spiel aus Kindertagen, bei dem die unten liegenden Hände weggezogen und immer wieder oben aufgelegt wurden, bis das Ganze im Gehaue endete und alle Hände sich gegenseitig schlugen.
Kippmomente und Mehrdeutigkeiten sind das Spezialgebiet des Bildhauers und Konzeptkünstlers Thomas Judisch. Das zeigt sich schon in der Wahl seiner Ausstellungs- und Werktitel.

Ist es ein Witz, dass die sieben Zelte im Foyer keine Eingänge haben oder vielmehr als Anspielung darauf zu verstehen, dass geflüchtete Menschen bei uns nicht wirklich willkommen sind? Im großen Obergeschoss-Saal sind mehrere Dutzend Schlafsäcke aufeinander gestapelt, die für uns in jungen Jahren Unabhängigkeit vom Elternhaus bedeuteten und nomadisches Leben mit viel Freiheitsgefühl symbolisierten. Für viele der rund 100 Millionen Menschen auf der Flucht im Jahr 2022 ist es der einzige Besitz.

Der Titel dieser Installation Tausend und eine Nacht suggeriert ein märchenhaftes Nomadensein, doch sein wörtlicher Sinn könnte zutreffenderweise lang andauernde Heimatlosigkeit meinen.

Aus Holz wird Papier hergestellt und Altpapier zu Verpackungsmaterial verarbeitet. Mit rund 240 kg pro Person gehört Deutschland weltweit zu den Ländern mit dem höchsten jährlichen Papierverbrauch. Für seine Installation Deutscher Wald gestaltet Thomas Judisch Holzscheite aus Packpapierrollen und einen Laubhaufen aus Papierschnipseln – Lagerfeuerromantik und Naturnähe sind täuschend echt nachempfunden, aber durch die Wahl des Materials bringt der Künstler ein Kippmoment ins Spiel und die Situation wirkt bedrückend. Ein glitzernder Teppich mit Schachbrettmuster entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein Gelege aus 6.000 Patronenhülsen. „Blaue Bohnen“ sind ein Synonym für Munition: „Die blauen Bohnen flogen bald so dicht und zahlreich um unsere Ohren, dass sie die reinsten Galgenmelodien pfiffen. Rechts und links fielen die braven Schützen.“ So beschrieb einer der Angreifer den Kampf um das französische Ardennendorf Bazailles im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Auch die kleinen bronzenen Bastelmännchen aus Eicheln und Kastanien wirken nur auf den ersten Blick harmlos und spätestens beim Lesen des Titels „Little Soldiers“ bleibt uns das Lachen im Hals stecken.

So janusköpfig wie die kleine Bronze einer doppelseitigen Schirmmütze ist auch die Kunst von Thomas Judisch: einerseits ästhetisch und humorvoll, andererseits von tiefem Ernst und politischer Brisanz. Und noch lange nach dem Besuch seiner Ausstellung wird uns wohl die Frage beschäftigen, warum der Künstler sich im Video Cry me a River so herzergreifend die Seele aus dem Leib weint, bis das Telefon klingelt. Ist es doch wirklich zum Heulen, was derzeit Tag für Tag auf der Welt passiert.

Thomas Judisch entlarvt in seinen Installationen und Objekten den schönen Schein der sichtbaren Welt, betreibt hintersinnige Vexierspiele, bringt die Dinge auf den wunden Punkt und entledigt sie jeglicher Harmlosigkeit. (Carola Schneider)

Thomas Judisch (*1981, Waren/Müritz)
studierte Bildhauerei bei Elisabeth Wagner an der Muthesius Kunsthochschule Kiel (MKH) und absolvierte 2011 den Meisterschule an der Hochschule für Bildende Künste Dresden bei Eberhard Bosslet.
Von 2013-2022 hatte er verschiedene Lehrtätigkeiten an der MKH inne und unterrichtet seit 2020 an der TU Dresden.
Er nahm an zahlreichen Ausstellungen teil und wurde für seine Arbeit mehrfach mit Stipendien ausgezeichnet.
Der Künstler lebt und arbeitet in Schleswig-Holstein und Dresden.

Zur Ausstellungseröffnung erscheint eine neue Publikation

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Öffnungszeiten: Di – So 11 – 17 Uhr, Mi 11 – 20 Uhr / Eintritt frei
kostenlose Führungen: jeden Samstag um 16 Uhr mit Saskia Wittmann
Finissage: Donnerstag, 26.1.2023, um 18 Uhr

Bild: Thomas Judisch, Hand in Hand, 2022, courtesy Drawing Room, Hamburg und der Künstler

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