Das Drama mit den Weihnachtsstollen von Leonore Brode

Was ich hier erzählen will trug sich in Meißen, meinem damaligen Arbeitsort, in der Adventszeit 1959 zu



Für die Weihnachtsbäckerei, besonders das Stollenbacken, war es in jenen Jahren äußerst problematisch, die Zutaten zu bekommen, die den „Dresdner Christstollen“ zu dem werden lassen, was der Name verspricht. Glücklich konnten sich die Familien schätzen, die im ersehnten Paket Mandeln, Zitronat und Rosinen aus dem Westen geschickt bekamen.

Es war im sächsischen Raum üblich, daß man alle Zutaten zum Bäcker trug. In den Backstuben wurde der Teig bereitet, dann schob der Bäcker die Stollen in den Backofen. Nach dem Abkühlen des Backwerks, meist am Abend, holten die Familien ihre Stollen nach Hause.

Auf meinem Heimweg von der Arbeit kam mir eines Abends auf der Elbebrücke ein Mann entgegen, der auf der Schulter ein Kuchenbrett trug, auf dem vier oder fünf große Stollen lagen. Er kam gewiß aus einer der Backstuben, und zu Hause wartete die restliche Familie auf die weihnachtliche Köstlichkeit. Die Stollen waren schwer, das Brett muß ihn wohl stark auf die Schulter gedrückt haben. Ich sah, wie er das Brückengeländer nutzen wollte, um die Last auf die andere Körperseite zu verlagern. Er setzte das Brett ab, drehte sich etwas zur Seite – da kam einer der Stollen ins Rutschen. Sofort versuchte der Mann, nun wenigstens die übrigen zu retten. Doch der maßlose Schreck ließ alle Bewegungen völlig unkoordiniert ausfallen, und es geschah das Unglaubliche: Ein Stollen nach dem anderen rutschte in rasantem Tempo vom Brett über die Brücke, klatschte unten ins Wasser und versank in den Fluten der Elbe.

Was mag dem Bedauernswerten wohl in diesem Moment alles durch den Kopf gegangen sein?
Auf jeden Fall brodelte wohl auch eine maßlose Wut in ihm, denn ich konnte beobachten, wie er das Brett den Stollen hinterher ins Wasser warf, auf dem Absatz kehrtmachte und in der Richtung davonging, aus der er gekommen war. – Sicher brauchte er jetzt eine Gastwirtschaft, wo er den ersten Frust hinunterspülen konnte, bevor er mit der Hiobsbotschaft den Seinen daheim unter die Augen trat.

Ich kann mir vorstellen, daß sich diese Familie jedes Jahr wieder an die Stollengeschichte erinnert. Hoffen wir, daß sie nun, nach so vielen Jahren, auch darüber schmunzeln kann!



Unvergessene Weihnachten. Band 7
29 Zeitzeugen-Erinnerungen
Zeitgut-Verlag Berlin   
Preis: 8,90 Euro
ISBN: 978-3-86614-203-9

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