QUEERE MODERNE. 1900 bis 1950

... präsentiert von K20/ Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen



Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt mit Queere Moderne. 1900 bis 1950 die erste umfassende Ausstellung in Europa, die den bedeutenden Beitrag queerer Künstlerinnen zur Moderne vorstellt. Mit über 130 Werken – darunter Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen, Filme, Literatur und Archivalien – von 34 internationalen Künstlerinnen richtet das Ausstellungsprojekt den Fokus auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Es erzählt eine alternative Geschichte der Moderne, in der queere Künstlerinnen Themen wie Begehren, Gender und Sexualität sowie die Politik der Selbstdarstellung in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellten. Sie erzählt zudem Geschichten queeren Lebens in Zeiten von Krieg und Widerstand.

Trotz ihrer engen Verflechtung mit den Avantgarden blieben queere Positionen im kunsthistorischen Kanon oft unberücksichtigt. Die häufig fehlenden Zeugnisse und Berichte über sexuelle Orientierungen und Lebensweisen erschweren bis heute die Aufarbeitung einer queeren Moderne, einer Zeit, die zudem von kolonialen Machtverhältnissen geprägt war. Dieser Prozess der Rekonstruktion eines oft vergessenen Teils der Moderne ist von dem zwangsläufig fragmentarischen Zugang zu Wissen und einem Erinnerungsverlust geprägt, Aspekte, die in die Perspektive auf eine queere Moderne kreativ einzubeziehen sind. Von der fragmentierten Quellenlage besonders betroffen sind LGBTQ+ Gemeinschaften aus weniger privilegierten sozialen Klassen oder dem „Globalen Süden“ sowie Menschen, die Mehrfachdiskriminierungen wie Rassismus ausgesetzt waren. Darüber hinaus wurde der Begriff „queer“ erst im Zuge des schwul-lesbischen Aktivismus rund um die sogenannten Stonewall-Unruhen 1969 in New York von der queeren Community als emanzipatorische Selbstbezeichnung umgedeutet. Damit wurde der Begriff positiv besetzt und trug maßgeblich zur Sichtbarkeit queerer Lebensrealitäten bei.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als insbesondere Homosexualität unter Männern weithin kriminalisiert und Homosexualität unter Frauen tabuisiert wurde, lebten viele Künstlerinnen nach außen hin ein gesellschaftlich angepasstes Leben und führten sogenannte Zweckehen, was von der Geschichtsschreibung vorrangig festgehalten wurde. Was die Quellen verbergen, ist daher manchmal sogar wichtiger als das, was sie offenbaren.

Queere Moderne. Von 1900 bis 1950 ist in insgesamt acht thematische Kapitel gegliedert und beleuchtet ein internationales Netzwerk queerer Künstlerinnen, das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Metropolen Europas, in den USA und im globalen Austausch auszubilden begann.

Die Ausstellung beginnt mit einem Prolog, der stellvertretend für die frühe Moderne steht und zeigt ein „Doppelporträt“ der Künstlerin Rosa Bonheur (1822 in Bordeaux, Frankreich−1899 in Thomery, Frankreich) mit einem Stier. Rosa Bonheur wurde international berühmt für ihre bahnbrechenden Tierdarstellungen. Da sie ihr von Édouard Dubufe ausgeführtes Porträt als zu traditionell empfand, stellte sie ihrem Bildnis selbstbewusst einen Stier zur Seite. Bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachen Künstlerinnen wie die Malerin Bonheur mit überlieferten Geschlechterrollen, lebten in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und verschafften sich die Erlaubnis, öffentlich Männerkleidung tragen zu dürfen.

Künstlerinnen der Moderne haben zahlreiche Wege gefunden, alternative Bildsprachen und visuelle Codes für queeres Leben und Identitäten zu schaffen. Die unter dem Titel „Modernes Arkadien” versammelten Positionen zeigen, wie sich Künstlerinnen wie Glyn Warren Philpot (1884 in Clapham, UK−1937 in London, UK), Ethel Walker (1861 in Edinburgh, UK−1951 in London, UK), Lotte Laserstein (1898 in Preußisch–Holland, heute: Pasłęk, Polen−1993 in Kalmar, Schweden) oder Ludwig von Hofmann (1861 in Darmstadt 1945 in Pillnitz bei Dresden) bekannter mythologischer Bildwelten als Tarnung bedienten, um homoerotisches Begehren darstellen zu können. Der Schwarze US-amerikanische Künstler Richmond Barthé (1901 in Bay St. Louis, USA−1989 in Pasadena, USA) schuf im Umfeld der Harlem Renaissance – einer literarischen und künstlerischen Bewegung Schwarzer US-amerikanischer Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in New York – Skulpturen, die den Schwarzen männlichen Körper zu einem Verhandlungsort für Fragen von sozialer Emanzipation, Schwarzer Identität und Homosexualität werden ließ.

Die „Sapphische Moderne“ fokussiert auf von lesbischen Frauen geführte Salons und transkulturelle Netzwerke in Paris. In der Moderne wurde der Begriff „sapphisch“ in Anlehnung an die antike Dichterin Sappho von der Insel Lesbos zum Synonym für lesbisches Begehren. Die einflussreichsten Literatur- und Kunstsalons wurden von den Dichterinnen Natalie Barney und Gertrude Stein sowie den Buchhändlerinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach geführt. An diesen Orten verkehrten zahlreiche Akteurinnen der sapphischen Moderne wie die Künstlerinnen Romaine Brooks (1874 in Rom, Italien−1970 in Nizza, Frankreich) oder Marie Laurencin (1883 in Paris, Frankreich−1956 in Paris, Frankreich), aber auch Vertreterinnen der Avantgarden wie zum Beispiel Pablo Picasso oder James Joyce. Die US-Amerikanerin Brooks malte zahlreiche Porträts und Akte von ihren Liebhaberinnen wie Natalie Barney oder von Weggefährtinnen wie Gluck (1895 in London, UK−1978 in Steyning, UK). Wie zahlreiche queere Künstlerinnen nahm auch Gluck einen geschlechtsneutralen Namen an.

Unter dem Titel „Surreale Welten” werden Positionen vereint, die sich mit den Konzepten der Androgynie und des Hermaphroditismus (heute als „Intergeschlechtlichkeit“ bezeichnet) auseinandersetzten. In einer Zeit, in der traditionelle Geschlechterrollen zunehmend infrage gestellt wurden, kam es besonders im Surrealismus zu zahlreichen Darstellungen von in Technologie gebannten Körpern und teils gewaltvollen Darstellungen eines modernen Geschlechterkampfs, bei denen Frauen meist als Objekte der männlichen Begierde dargestellt wurden. Einige Werke von Surrealisten aus der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeugen von diesem Ausdrucksrepertoire wie etwa René Magrittes bedrohliches Gemälde Les jours gigantesques von 1928 oder Max Ernsts La femme chancelante von 1923. Künstlerinnen wie Ithell Colquhoun (1906 in Shillong, Indien−1988 in Lamorna, UK), Jean Cocteau (1889 in Maisons-Laffitte, Frankreich‒1963 in Milly-la Forêt, Frankreich), Leonor Fini (1907 in Buenos Aires, Argentinien−1996 in Paris, Frankreich), Gerda Wegener (1886 in Hammelev, Dänemark−1940 in Frederiksberg, Dänemark) oder Milena Pavlović-Barili (1909 in Požarevac, Serbien−1945 in New York City, USA) hingegen bildeten mit ihren Werken Visionen queerer Identitäten und Szenarien aus, in denen Konventionen herausgefordert und transzendiert werden konnten.

Aufbauend auf queeren Theorien wie denen von David J. Getsy will das Kapitel „Queere Lesarten von Abstraktion“ die von den Avantgarden verteidigten Grenzen zwischen Abstraktion und Figuration in der Moderne aufbrechen und neu denken. Zu Beginn der Moderne wurden der Abstraktion wie etwa bei Piet Mondrian geschlechtliche Attribute zugeschrieben. Dieser hielt in seinen neoplastischen Arbeiten jedoch an einer hierarchisierenden Geschlechterbinarität fest, in der das männliche Prinzip als überlegen galt. In den konstruktivistischen und biomorphen Kompositionen von Künstlerinnen wie Marlow Moss (1889 in Kilburn, UK−1958 in Penzance, UK), Anton Prinner (1902 in Budapest, Ungarn−1983 in Paris, Frankreich), Jacoba van Heemskerck (1876 in Den Haag, Niederlande−1923 in Domburg, Niederlande) oder Louise Janin (1893 in Durham, USA−1997 in Meudon, Frankreich) hingegen zeigen sich die Potenziale einer unfigürlichen oder genderqueeren Ästhetik.

„Queere Avantgarden und intime Netzwerke“ richtet den Fokus auf transnationale queere Netzwerke. Gezeigt werden Arbeiten von Pavel Tchelitchew (1898 in Dubrowka, Russland−1957 in Grottaferrata, Italien), George Platt Lynes (1907 in East Orange, USA 1955 in New York City, USA), Paul Cadmus (1904 in New York City, USA−1999 in Weston, USA), Duncan Grant (1885 in Rothiemurchus, UK‒1978 in Aldermaston, UK) oder Beauford Delaney (1901 in Knoxville, USA–1979 in Paris, Frankreich), die zwischen Berlin, London und New York – wie Niels Dardel (1888 in Bettna, Schweden−1943 in New York City, USA) – auch in Paris auf die dortige internationale Avantgarde und transatlantische Kunstszene stießen.

Das Kapitel „Queerer Widerstand seit 1933“ vereint Positionen wie die von Toyen (1902 in Prag, Tschechoslowakei−1980 in Paris, Frankreich) und Jeanne Mammen (1890 in Berlin−1976 in Berlin) sowie die der lesbischen Künstler*innenpaare Claude Cahun und Marcel Moore (1892 in Nantes, Frankreich−1972 auf Jersey) oder Hannah Höch (1889 in Gotha−1978 in Berlin) und Til Brugman (1888 in Amsterdam, Niederlande−1958 in Gouda, Niederlande), die ganz unterschiedliche Formen des antifaschistischen Widerstands entwickelt haben. Nach drei Jahrzehnten der fragilen Errungenschaften neuer Freiheiten und eines fruchtbaren queeren künstlerischen Schaffens wurden viele Hoffnungen unter dem Schatten des europäischen Faschismus brutal zunichtegemacht. Spätestens mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 drohten queeren Menschen auf der Grundlage des von den Nationalsozialisten verschärften Paragrafen 175 das Konzentrationslager, grausame medizinische Experimente und der Tod.

Der Epilog wirf einen Blick auf die konservativ geprägten 1950er-Jahre. Vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Kriegs leitete die McCarthy-Ära in den USA eine neue Phase politischer Repression gegen Homosexuelle ein. Künstlerinnen wie Sonja Sekula (1918 in Luzern, Schweiz−1963 in Zürich, Schweiz) und John Cage wählten mit ihren Arbeiten eine besondere Form des stillen, konzeptuellen Protests: Sekula widmete Cage das Gemälde Silence (1951) und Cage brachte 1952 mit seiner legendären Performance 4’33“ Stille selbst zur Aufführung – als ein Akt des kulturellen und politischen Widerstands.

Relevanz heute


Queere Moderne. 1900 bis 1950 zeigt auf vielen Ebenen, wie gesellschaftspolitisch relevant die in den Werken aufgeworfenen Themen und die Lebensläufe der Künstlerinnen in ihrer Zeit waren und heute noch sind. Angesichts zunehmender Diskriminierung queeren Lebens in vielen Teilen der Welt, ist es umso dringlicher, die Geschichte queerer Kultur sichtbar zu machen. Die Ausstellung folgt damit der Vision der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, ein vielstimmiges und globales Museum für alle zu sein, und stellt einen wichtigen Schritt dar, um die Geschichte der Moderne differenzierter, inklusiver und vielfältiger zu erzählen.

Publikation

Begleitend zur Ausstellung erscheint ein von Susanne Gaensheimer, Isabelle Malz und Anke Kempkes herausgegebener zweisprachiger Katalog (Deutsch/Englisch, 304 Seiten, ca. 200 Abbildungen) mit Essays von Jonathan D. Katz, Anke Kempkes, Tirza True Latimer, Isabelle Malz, Isabelle Tondre, Diana Souhami.

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Bild: Lotte Laserstein, Ich und mein Modell, Öl auf Leinwand, 49,5 × 69,5 cm, Privatsammlung, Courtesy Agnews, London © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

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