
Im  Rijksmuseum Boerhaave in Leiden schlägt das Herz der Wissenschaft.  Zwischen Mikroskopen, künstlichen Organen und dem ehrwürdigen  Anatomischen Theater erzählt das Museum die Geschichte vom ewigen Traum,  das Leben zu verstehen – und zu verlängern. 
So thront hier  hinter Glas ein Exemplar des weltweit ersten dauerhaft eingesetzten  künstlichen Herzens. Ein faustdickes Konstrukt aus Kunststoff und  Silikon, verbunden mit Schläuchen, Ventilen, Hoffnungen. Entwickelt  wurde es von dem niederländischen Arzt Willem Kolff und seinem  amerikanischen Kollegen Robert Jarvik. 1982 ließen sie es einem  todkranken Mann in den USA einsetzen, der damit noch 112 Tage lebte.
Kurator  Bart Grob steht neben der Vitrine. „Das war ein Experiment, aber auch  ein Symbol“, sagt er. „Ein Stück Menschheitsgeschichte im Takt einer  Maschine.“ Seine Hände verharren kurz über dem Glas, als könne er den  Puls dieser Pionierzeit noch fühlen. Dieses Herz ist das Herzstück des  Rijksmuseum Boerhaave, eines der ungewöhnlichsten Museen Europas. Und  ein Ort, an dem sich die großen Fragen der Medizin mit den stillen  Geschichten des Menschseins kreuzen.
Wunder aus fünf Jahrhunderten
Das  Museum liegt mitten in der Altstadt von Leiden, in einem ehemaligen  Kloster aus dem 15. Jahrhundert. Wo einst Mönche beteten, erzählen heute  Instrumente und Präparate vom Siegeszug der Forschung. In den Vitrinen  glänzen die ersten Mikroskope von Antoni van Leeuwenhoek, mit denen  erstmals Mikroorganismen sichtbar wurden. Daneben ruhen die Linsen von  Christiaan Huygens, die das Verständnis von Licht und Sehen  revolutionierten. Nur wenige Schritte weiter steht eine gigantische  „Eiserne Lunge“, die während der Polioepidemien Leben rettete.
Die  Eiserne Lunge war ein Käfig aus Stahl. Wer einmal darin lag, wurde Teil  einer Maschine, die den Atem übernahm. Der Körper lag bis zum Hals in  einer Röhre, der Kopf ragte durch eine gummierte Öffnung hinaus. Innen  erzeugten Pumpen einen rhythmischen Unterdruck, der den Brustkorb hob  und senkte – künstlich, mechanisch, unaufhörlich. Für viele  Polio-Patient:Innen bedeutete das Wochen, Monate, manchmal ein ganzes  Leben im Takt dieser Maschine. Sie konnten sehen, hören, sprechen, aber  oft nie mehr allein atmen, weil das Poliovirus die Atemmuskulatur  gelähmt hatte.
Zwischen gläsernen Zylindern mit präparierten  Embryonen, tierischen Organen und den ersten Dialysemaschinen wird  deutlich: Wissenschaft ist nie abstrakt. Sie ist zutiefst menschlich,  eine Geschichte aus Mut, Zufall, Irrtum und Vision. So wird das Museum  zu einer Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Das Anatomische Theater – wo Wissen sichtbar wurde
In  einem Seitenflügel des Museums öffnet sich ein halbrunder Raum, warm  beleuchtet, mit steil ansteigenden Holzbänken. Hier befindet sich das  rekonstruierte Anatomische Theater, der älteste Hörsaal der  niederländischen Medizin. Im 17. und 18. Jahrhundert führten hier  Professoren öffentliche Sektionen durch. Die Zuschauer, also Ärzte,  Studenten und Bürger, blickten hinab auf die kalte Platte, auf der das  menschliche Innenleben sichtbar wurde. Zwischen Schock und Faszination  wuchs das Wissen über den Körper, das später die moderne Medizin  begründen sollte.
An Szenen wie diese erinnerte Rembrandt van  Rijn in seinem berühmten Gemälde „Die Anatomie des Dr. Tulp“ (1632), das  den Moment festhält, in dem wissenschaftliche Erkenntnis und  menschliche Neugier erstmals öffentlich zusammentrafen. Kunst und  Anatomie verschmolzen zu einer einzigen Geste: dem Versuch, das Leben  durch Beobachtung zu verstehen. Bis heute gilt Rembrandts Werk als  Sinnbild jener typisch niederländischen Haltung, in der Wissenschaft,  Kunst und Ethik nicht als Gegensätze gedacht werden, sondern als  gemeinsame Suche nach Wahrheit. Es spiegelt die Achtung vor dem Körper  ebenso wie den Mut, hinter die Oberfläche zu blicken. Eine Haltung, die  das Rijksmuseum Boerhaave in seinen Räumen weiterführt.
Das pulsierende Erbe
Das  Rijksmuseum Boerhaave ist mehr als ein Museum. Es ist ein Denkraum über  das Leben und über die Verantwortung, es zu verstehen. Zwischen alten  Mikroskopen und biotechnologischen Visionen, zwischen Skalpell und  künstlichem Herz erinnert jedes Objekt daran, dass Fortschritt ohne  Menschlichkeit hohl bleibt.
Während im alten Kloster die  Geschichte der Medizin atmet, wächst jenseits der Straße bereits ihre  Zukunft. Mit dem neuen Life Science & Health Pavillon will das  Rijksmuseum Boerhaave die Brücke schlagen zwischen den Wundern  vergangener Jahrhunderte und den Fragen von morgen: von Genetik und  Biotechnologie bis zur Ethik des künstlichen Lebens. Wo einst Nonnen  beteten, soll bis 2031 ein Ort entstehen, an dem WissenschaftlerInnen,  Studierende und BesucherInnen ins Gespräch kommen.
Ein Blick über die Mauern – das Anatomische Museum der Universitätsklinik
Nur  wenige Minuten vom Boerhaave entfernt, im Gebäudekomplex der Leidener  Universitätsklinik (LUMC), liegt das Anatomische Museum – ein Ort, der  sonst nur Medizinstudierenden und Forschenden zugänglich ist. Seine  Sammlung geht auf das 16. Jahrhundert zurück und zählt zu den ältesten  anatomischen Kollektionen Europas. In langen, gedämpft beleuchteten  Räumen reihen sich Hunderte von Präparaten, Modellen und Schädeln.  Besonders eindrucksvoll ist die Sammlung konservierter menschlicher  Organe und Fehlbildungen, die über Jahrhunderte zu Lehrzwecken  aufbewahrt wurden. Die Präparate zeigen alles, was einst verborgen  blieb: Herzen, Lungen, Föten, Skelette und pathologische Veränderungen,  sorgfältig konserviert in Glaszylindern, deren Etiketten in lateinischer  Schrift verblasst sind.
Ein Teil der Sammlung stammt direkt aus  der Epoche von Herman Boerhaave (1668- 1738), der ab 1701 als Professor  in Leiden unterrichtete und seine Studierenden hier erstmals am echten  Körper ausbildete. Von jener Zeit sind noch präparierte Schädelserien,  Lehrskelette und Venenmodelle aus Wachs erhalten, die zur Demonstration  von Muskeln und Blutbahnen dienten.
Eindrückliche Zeugnisse der anatomischen Forschung
Im  19. Jahrhundert kamen weitere Stücke hinzu – Wachsmodelle aus Florenz,  sogenannte anatomische Venusstatuen, bei denen sich Haut- und Organlagen  abnehmen lassen, sowie medizinische Demonstrationsinstrumente aus  Bronze und Messing. Auch die Sammlung seltener Schädel und  Skelettanomalien aus der Kolonialzeit gehört zu den eindrücklichsten  Zeugnissen der anatomischen Forschung jener Jahre.
Das  Anatomische Museum dient heute nicht mehr der öffentlichen  Schaustellung, sondern der medizinischen Ausbildung und Forschung. Wer  den Raum betritt, spürt die historische Schwere dieses Wissens: Es ist  der Ort, an dem die Geschichte des menschlichen Körpers bewahrt wird,  Schicht für Schicht, Gefäß für Gefäß. Zweimal im Jahr öffnet das Museum  seine Türen auch für das Publikum, im Rahmen des Nationalen  Museumwochenendes im April und des Wissenschaftswochenendes im Oktober.  (NBTC)
Foto: Merel Tuk
Museum Boerhaave: Zwischen Leben, Forschung und Ewigkeit
Im Rijksmuseum Boerhaave in Leiden schlägt das Herz der Wissenschaft
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