
Meine Mutter hätte heute Geburtstag. Wobei, so ganz stimmt das nicht, denn heute vor 101 Jahren wurde sie adoptiert. Sie wurde nämlich Wochen zuvor auf eine Kirchentreppe abgelegt. Ihre eigentliche Mutter war eine litauisch-jüdische Schauspielerin, ihr Vater wohl ein britischer Seemann. Ihre Adoptiveltern waren ein älteres Paar, sie selbstständige Schneidermeisterin, er Steuermann auf großer Fahrt bei der HAPAG, später Hafendolmetscher.
So begann ihr Leben im ostpreussischen Memel, dem heutigen Kleipeda. Es begann ein Leben, wie man es nur im zwanzigsten Jahrhundert leben, ja ertragen konnte. Sie war nach eigenem Bekunden ein nicht sehr braves Kind, lernte Kinderkrankenschwester, wurde schwer krank und es kam der Krieg. Dass der für sie als Vierteljüdin nicht in einer Gaskammer endete, verdankte sie einem hohen Nazi in der Familie. Sie war glühendes BdM-Mädel. Dann kam die Flucht vor den Russen, der Tod des Vaters und ihre Zeit als Zivilinternierte in der Sowjetunion. Als Kriegsbeute, die hungerte, fror und vergewaltigt wurde, wunderte sie sich noch Jahrzehnte später, dass sie das überlebte und ihr die Flucht nach Deutschland gelang.
Hier hatte sie das Leben wieder, aber was für ein Leben. Eine Flüchtlingsfrau, die niemand wollte – zumindest bis sie meinen Vater kennen lernte. Man heiratete – oh Schande – als ich schon im Entstehen war. Sie war plötzlich Ehefrau und Mutter, ohne einen Tag eine Jugendliche gewesen zu sein. Bis dahin musste Sie nur um eines kämpfen – ihr Überleben. Das änderte sich nur langsam, doch so richtig konnte sie sich nie für etwas begeistern, war froh das Leben zu meistern.
Dann kam Jahre später meine Schwester, doch ein richtig fröhlicher Mensch wurde Mutter nie – wie auch bei so einer Biographie. Später reiste sie gern, ging auch ins Theater, machte sich sogar schön. Ich glaube, dass sie erst nach der Maueröffnung, als Rentnerin anfing, das Leben zu genießen. Erst da erzählte sie von den Zeiten in ihrem Leben, die sie tief in sich begraben hatte. Irgendwann war sie nicht mehr da, einfach eingeschlafen.
Was für ein Leben? Ein Leben, von dem viele Frauen erzählen könnten, so sie noch leben würden.
Was bin ich froh, dass ich jetzt mein Frühstück mit der Besten Frau der Welt genieße kann.
Ich wünsche Ihnen ein genussvolles Frühstück.
Gratulation allen, die heute Namenstag haben: Franz Xaver, Jason
Foto: Pixabay
Morgengruß von Helmut Harff: 101 Jahre
… wäre meine, unsere Mutter heute geworden
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