Eine wahre Weihnachtsgeschichte

... von Nicolas Ryhiner



Der Song schlug ein wie eine Bombe. "Ich sterbe für dich" hatte ihr auf einen Streich über zehntausendneue Anhänger gebracht. Okay, die Zahl ihrer Abonnenten war damit zwar hochgeschnellt, ja, doch insgesamt müsste die Gefolgschaft noch wesentlich grösser werden, damit sie von den Beiträgen ihren Lebensunterhalt verdienen könnte. Bärbel war Influencerin. Und sie hatte die Schnauze voll von ihrem Ken.


Natürlich fiel an jenem Nachmittag der erste Schnee, als sie beim Eindunkeln auf das festlich beleuchtete Kaufhaus des Westens zuschritt. Sie fröstelte. Bevor sie das Gebäude betrat, sah sie sich draussen die Auslagen an. Echt hyggelig, wie die Dänen sagen. Da wurde es ihr ganz warm ums Herz. Instantly. Weihnachtsstimmung pur.

An der Austernbar im Erdgeschoss gönnte sie sich ein Glas Sekt und liess sich von der zauberhaften Atmosphäre mit dem geschmückten, glitzernden Tannenbaum in der Mitte der Halle in die magische Welt des Christfestes tragen. Weihnächtliche Klänge auch aus den Lautsprechern. Frank Sinatra sang "Let it snow".

Bärbel würde den ultimativen Krippensong posten, "Ich sterbe für dich", die Christmas-Version vor der perfekten Kulisse, der Geburtsszene Jesu. Vierter Stock, Weihnachtsdeko. Da würde sie die nötigen Accessoires für ihr Bühnenbild finden. Sie aktivierte die Kamerataste auf ihrem Smartphone, streckte den Arm aus, rückte die rote Seidenschleife in ihrem Haar zurecht, setzte einen Schmollmund auf und schoss ein Selfie.

Im Fahrstuhl war sie allein. Bärbel drückte den Knopf zur vierten Etage. Merkwürdig. Die Liftfahrt dauerte eine Ewigkeit. Eine drückende Hitze, plötzlich, in dieser Kabine.

Gleissendes Sonnenlicht blendet sie, als die Tür des Aufzugs sich automatisch öffnet. Dieselqualm verpestet die Luft. Befehlsstimmen belfern wie im Krieg, Männer in Tarnanzügen, Maschinenpistolen im Anschlag, Blaulicht, Sirenengeheul. Ein Kardinal wird in ein Fahrzeug bugsiert, der Konvoi von Militärfahrzeugen prescht davon und hinterlässt eine dicke, sandige Staubwolke.

Bärbel sitzt auf Kens Schulter, auf der starken Schulter ihres langjährigen Freundes Ken, von dem sie sich noch immer nicht hat trennen können, weil sie es nicht übers Herz brachte, ihn rauszuwerfen. Sie hätte ihm ja auch gar nichts vorzuwerfen gehabt. Er ist immer da für sie, ist so hilfsbereit, so gnadenlos hilfsbereit, er macht alles, um ihr gefällig zu sein. In Wahrheit jedoch, findet sie, ist er leider einfach nur ein Langweiler mit seiner verständnisvollen Art. 

Aber item, das hat jetzt nichts zur Sache. Bärbel ist eine Ratte und balanciert mit ihrem langen rosafarbenen Schwanz, den eine rote Seidenschleife ziert, auf Kens Schulter.

Bärbel weiss: Nur sie allein kann das angekündigte Inferno noch verhindern. Mit ihrem speziell trainierten Geruchsinnist sie fähig, Sprengstoff zu erschnüffeln. In Bethlehem wurde in der Geburtskirche Christi an der eigentlichen Stelle der unterirdischen Grotte, wo Maria das Jesuskind einst gebar, eine Zeitbombe platziert, deren Zünder von den anonymen Bekennern der Tat bereits aktiviert wurde. Der einzige Zugang dorthin, durch die Demutspforte, ist perfider weise ebenfalls vermint. Um sechzehn Uhr, pünktlich zum Beginn des Vespergottesdienstes soll die Bombe hochgehen.

Hamas? Zahal? Fundis? Sektierer? Wer tut sowas? Kamerateams aller grossen Nachrichtenkanäle weltweit sind vor Ort und covern das Geschehen mit Liveberichten. Fünfzehn Uhr fünfundfünfzig.

Bärbel springt von Kens Schulter und wieselt auf ihren zartrosafarbenen Pfötchen schnurstracks auf besagten Eingang zu und in die Kirche hinein, huscht über die kalten Steinplattenzum Altar vor, prescht über die Stufen der Rundtreppe ins Stockdunkle hinunter, schnuppernd, witternd, mit zitternden Schnurrhaaren durch die Höhlengänge, flitzt entlang der feuchten Wände all der vielen Seitentunnel, Ecken und Nischen, bis zur heiligen Grotte.
TNT, hier, eine dichte Duftwolke, sagt ihre Nase. Die Zeit drängt. - Da, ein Knäulel von Elektrokabeln. Ein rotes Lämpchen blinkt im Sekundentakt. Mit ihren messerscharfen Nagezähnen zerschneidet sie nun eine Leitung nach der anderen. Beisst sich durch die Kupferdrähte, in wildem Furor, zertrennt alle Verbindungen, bis das Lämpchen nicht mehr blinkt.

Puh, das war knapp! Sie ist ausser Atem, ihr Herzchen rast noch immer. Taumelnd vor Erschöpfung macht sie sich auf den Weg zurück an die Oberfläche, als die Kirchturmglocke viermal schlägt.

Vor der Kirche wetzt sie quer über den menschenleeren Vorplatz und hinter die Absperrung, wo mit den Einsatztruppen, in sicherer Distanz, Ken in einem Panzerfahrzeug sitzt. 

Vor dem Rückspiegel nur noch rasch etwas Wimpertusche aufgetragen und die Lippen rot geschminkt, dann kann es losgehen. Die versammelte Weltpresse wartet auf sie. Die rote Seidenschleife an ihrem Schwanz zupft sie noch einmal zurecht. 

Vergiss den Song! "Ich sterbe für dich" war gestern. Morgen hat Bärbel zehn Millionen Follower.

Nicolas Ryhiner, geb. 1953 in Basel, Autor und Regisseur. Arbeiten für Theater, Fernsehen und Hörspiel. Drehbücher, Texte und Auftragswerke. 2004–2015 Aufbau eines Weinbau- und Gastbetriebes im Burgund und Tätigkeit als Winzer. Romanveröffentlichungen: «Die afrikanische Nacht» (1995), «Splendid Palace» (2015), «Im Surinam» (2019), «Graffenrieds Gründung» (2025).

Foto: Privat

© Copyright by genussmaenner.de - Berlin, Deutschland - Alle Rechte vorbehalten.
Veröffentlicht am {DATE:d.M.Y : DE} unter dieser Internetadresse: http://www.genussmaenner.de/index.php?aid=89312