Zeitgut-Weihnachtsgeschichte: Der unbescheidene Hanno

... von Erika Arnholdt



Alle Jahre wieder bieten wir Ihnen in Zusammenarbeit mit dem Zeitgut-Verlag auch diesmal stimmungsvolle Weihnachtsgeschichten. Lebendige Originalfotos und Illustrationen runden diese ergreifenden Geschichten aus der Buchreihe "Unvergessene Weihnachten" ab.

(Altenrode, Landkreis Goslar, Harz; Anfang der 50er Jahre) Ich verbrachte meine Kindheit auf dem Lande. Meine Eltern stammten aus Schlesien, auch meine um fünf Jahre ältere Schwester Traute war dort geboren. Unsere Familie hatte auf einem Gut in Altenrode bei Goslar unterkommen können. Wir wohnten hier, und Vater arbeitete als Treckerfahrer und Chauffeur des Gutsherrn. 

Wie alle Kinder, waren auch wir am liebsten draußen. Im Herbst und Winter jedoch, auch im zeitigen Frühjahr, wenn es noch empfindlich kalt war, spielten wir im Hause. Meine fünf Jahre ältere Schwester Traute spielte mit dem gleichaltrigen Hanno, einem der Söhne des Chefs. Weil sie aber immer auf mich aufpassen mußte, war ich wohl oder übel auch dabei. Damals gab es im ersten Stockwerk des Guts hauses ein großes Kinderzimmer, ohne Betten. Es war eher ein geräumiger Aufenthaltsraum mit einem übergroßen Tisch und vielen Stühlen darum, einem Bücherschrank, einem Sofa, Truhen und Kisten voller Spielzeug sowie einem Teppich auf dem Parkettboden. Der Raum war sehr groß und hell, denn er besaß drei hohe Fenster. 

Hier spielten wir unter der Obhut von Lilo, dem Kinder mädchen. Sie erzählte uns auch Geschichten oder las aus einem der schönen Bilder- und Kinderbücher vor. Sicherlich haben Traute und Hanno hier auch gebastelt und ihre Schularbeiten gemacht, während Lilo mich anderweitig beschäftigte. In den Mittagsstunden mußten es leise Spiele sein, weil nebenan die Zimmer von Hannos Großeltern lagen. Er nannte sie Grand-Mama und Grand-Papa – ein Überbleibsel aus der guten alten Zeit zu Beginn des Jahrhunderts, als sich der Adel und wohlhabende vornehme Bürger in französischer Sprache bei Tische unterhielten, damit das Personal nicht verstehen und hören konnte, was nicht für dessen Ohren bestimmt war. 

Am schönsten war es aber immer für mich, wenn Lilo gegen vier Uhr nachmittags schnell mal nach unten in die Küche ging, denn jedesmal trug sie bei ihrer Rückkehr ein großes Tablett. Darauf stand für jeden von uns eine große Tasse, mit einem Hahn oder einer Henne bemalt, die mit köstlichem Kakao gefüllt war. Dazu gab es meistens Kekse oder ein gebuttertes süßes Hefeteigbrötchen, in der Adventszeit aber Plätzchen und Lebkuchen. Seit damals ist Kakao für mich nicht nur ein süßes, warmes Getränk, sondern auch der Inbegriff eines schönen Gefühls der Geborgenheit. Noch heute trinke ich eine Tasse Kakao mit diesem ganz besonderen Genuß, und es wundert mich kein bißchen, daß das Motiv von Hahn und Henne auf dem Steingutgeschirr nie außer Mode gekommen ist. 



Nie werde ich vergessen, wie an solch einem Winterabend – es muß der Nikolaustag gewesen sein – Knecht Ruprecht persönlich ins Haus kam. Wir spielten alle in Hannos Kinderzimmer, auch seine älteren Geschwister Volker und Mia waren da, dazu noch Helga, Mias Freundin, und die beiden Töchter der anderen Flüchtlingsfamilie, die auf dem Gut lebte. Lilo hatte die Kerzen am großen Adventskranz angezündet, der mitten auf dem Tisch stand, und gerade begonnen, eine Geschichte aus dem Märchenbuch vorzulesen, als es dumpf an die Tür pochte. Ich erschrak sehr und flüchtete sogleich auf Lilos Schoß. Da öffnete sich auch schon die Tür, und Knecht Ruprecht stand vor uns. Er trug einen dunklen, schweren Mantel, der bis zum Boden reichte, schwarze Stiefel und auf dem Kopf eine Kapuze, die mit Fell besetzt war. Doch noch furchterregender waren sein langer weißer Bart und die Rute, die er in der Hand hielt. Mir war unheimlich zumute, und in meiner Aufregung nahm ich den großen, prall gefüllten Jutesack in seiner anderen Hand, ohnehin nur von mattem Kerzenschein beleuchtet, gar nicht wahr. 

Knecht Ruprecht erkundigte sich erst einmal, wer denn Mia und Volker seien. Dann mußten sie ein Gedicht aufsagen. Auch Renate, das ältere der Flüchtlingsmädchen, wußte einen Vers auswendig, und als sie ihn stockend vorgetragen hatte, erhielt sie eine mit Naschwerk gefüllte Tüte, ebenso ihre kleine Schwester und ich. Dann kam Gertraut dran, die ebenfalls glaubhaft versicherte, immer brav gewesen zu sein. Zuletzt war Hanno an der Reihe. Knecht Ruprecht fragte ihn, warum er denn am Vorabend statt seiner eigenen Schuhe die großen Schaftstiefel seines Vaters vor die Türe gestellt hätte. Nun kam Hanno ins Stottern und Schwitzen, er habe ja nur ... „Du konntest wohl nicht genug bekommen und wolltest mehr als die anderen haben?“ fragte Ruprecht streng. Hanno mußte dies kleinlaut zugeben. Er habe ja aber gar nichts erhalten, klagte er dann, denn am Morgen seien die Stiefel nur mit Kohle und Holzstücken gefüllt gewesen. „Das war die Strafe für deine Unbescheidenheit“, erklärte Knecht Ruprecht. „Aber falls du versprichst, es nie wie der zu tun, habe ich hier auch eine Tüte für dich.“ Hanno nahm sie erleichtert entgegen, und Knecht Ruprecht verabschiedete sich bis zum nächsten Jahr. Mia, Volker und Helga kicherten: „War das nicht ..?“ Aber schwups, da haute Knecht Ruprecht schnell noch ein mal mit der Rute in ihre Richtung und verschwand. 

Staunend blieben wir zurück. Lilo knipste die Lampe an, und wir schauten andächtig in die vollen Tüten. Was waren das für Schätze: Lebkuchen, eine Apfelsine und ein Apfel, vergoldete Nüsse, mit buntem Streusel verzierte Plätzchen, Schokoladenkringel und Schokoladenherzen! 

Erst viel später habe ich erfahren, daß mein Vater im Auftrag seines Chefs uns als Knecht Ruprecht besucht hatte.



Unvergessene Weihnachten Band 9
Zeitgut Verlag Berlin 
Preis: 8,90 Euro
ISBN: 978-3-86614-223-7

ACHTUNG: Alle Zeitgut-Bücher werden bis Ende 2025 kostenfrei versendet!

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