
1936. Die ganze Familie, meine Eltern, mein Bruder und ich, war stolz auf unseren neuen „DKW Reichsklasse“. Als der Krieg begann, stellte man ihn auf Holzböcke, die Räder wurden abmontiert, die Batterie ausgebaut. 1945 requirierten die Russen die Karosserie. Damit war alles weg!
Es war hellbraun mit einem dünnen roten Streifen rundher- um, unser erstes, funkelnagelneues Auto, ein „Dixi“. Auto heißt auf Griechisch „selbst“ erklärte mein Vater. Ich beobachtete mit Spannung, wie er sich selbst vor das Auto stellte und unterhalb des Kühlers mächtig kurbelte, so daß sein Schlips flog. Der „Dixi“ sprang an, mit einem Satz war Vatel im Auto und gab Gas. Hurra, wir fuhren!
Häuser und Bäume bewegten sich an mir vorbei wie von unsichtbarer Hand gezogen. Dann die Unterbrechung, es ging rechts ab. Ein roter Pfeil schnellte neben mir aus dem Kästchen, der Winker. Da der Wind sein Spiel mit ihm trieb, ging er, auch auf Knopfdruck, nicht zurück. Neben mir hörte ich Vaters Stimme: „Helga, mach das Fenster auf und drück‘ ihn vorsichtig zurück!“
In Gedanken beschäftigte ich mich jetzt mit den Rädern, die so schmucklos waren. Konnten sie nicht so aussehen wie meine Papierdeckchen, die ich in Mustern ausschnitt? Aber auf mich hörte ja keiner.
Mein Vatel war selbständig. Wir hatten ein Eisenwaren- geschäft mit Versand. Dafür benötigte Vater den „Dixi“. Im Winter wurde das Fahren problematisch. Die Straßen waren nicht geräumt, und die Bremsseile froren ein. Also mußte wieder alles per Post geschickt werden. Später hat ein Textilhändler den „Dixi“ übernommen. Geld gab es dafür nicht, nur Ware. Ich bekam unter anderem ein rotes Winterkleid mit Ziertaschen, die Kläppchen mit Blumen bestickt.
Ein neues Auto mußte her, ein „DKW Reichsklasse“. Das Foto zeigt uns alle vier stolz vor dem Neuen. Meine Eltern müssen ziemlich lange für ihn gespart haben, denn heute sehe ich, daß ich dasselbe weiße Kleid trug wie auf den Fotos aus den Jahren davor, nun verlängert. Muttel, wie üblich, mit Hut. Der Winker funktionierte, nun saß ich mit Vorliebe hinten. Eine feine Dame saß nie neben dem Fahrer. Ich stützte den Arm auf, legte das Kinn in die Hand und schaute blasiert nach draußen. Vatel sah alles im Rückspiegel, was ich nicht wußte und amüsierte sich. Mein Bruder fuhr mit, wenn bei den Kunden Ware auszuladen war.
Nach dem langen, langen Winter kam der erste schöne, warme und sonnige Sonntag. Fahren wir heute nach Marklissa, Bad Flinsberg oder gar nach Dresden? Mutter hatte den grünen Hut mit den Blümchen schon auf, der immer störte, aber sie meinte, ohne Hut sei man kein Mensch. Langsam nahm sie ihn wieder ab. Was war passiert?
Ein guter Kunde schaute vorbei, kaufte, aß bei uns und plauderte. Danach fuhren wir nur bis Bilegure.
1938 wurde das Volkswagenwerk gebaut. Das damals noch KdF-Wagen genannte Auto, das dort produziert werden sollte, interessierte meinen Vater. Es gab schon Prospekte, die auch uns Kinder in helle Aufregung versetzten. Wöchentlich fünf Reichsmark zu sparen, war für Vatel nicht so schlimm. Der Wagen sollte nur knapp 1.000 Reichsmark kosten. Doch als die Sparkarte nach knapp vier Jahren vollge- klebt war, lieferte das Werk nur Kübelwagen für die Wehrmacht aus. Die Sparkarte wurde wertlos.
Über die Autoproduktion im Volkswagenwerk gab es einen Witz, der allerdings nur hinter vorgehaltener Hand erzählt werden durfte: Ein VW-Arbeiter sprach zu seinem Kumpel: „Ich spare nicht für ihn. Jeden Abend beim Heimgehen nehme ich unter meiner Jacke ein VW-Teil mit.“ Als sein Kumpel nach Tagen fragt: „Nun, wie weit bist du mit dem Zusammenbauen?“, sagt er ganz leise: „Also, ich bin ja bestimmt nicht dumm, aber ich kann machen, was ich will, es wird immer eine Kanone!“
Ich erinnere mich an ein Lied vom Sommer 1939:
„Im ganzem Land marschieren nun Soldaten,
Helm und Gewehr bereit.
Heiß ist der Sommer, lang sind die Straßen
und wir marschieren noch weit.
Aber nun hört da vorne die Trompeten!
Das ist ein heller Schrei.
Laßt allen Gram getrost im Graben liegen,
das macht die Herzen frei.“
Im Sommer 1939 fuhren stundenlang Fahrzeuge der Deutschen Wehrmacht an unserem Haus vorbei. Wir wohnten in der Forster Sorauer Straße 26, nur ein paar Meter von der Neißebrücke entfernt. Anfangs waren wir sehr begeistert. Doch am 25. August 1939 wurde auch unser Vatel eingezogen. Er mußte in Sagan, Niederschlesien, einrücken.
Vatel bekam einen „Opel Olympia Cabriolet“ und zog in den Krieg. Der Opel, feldgrau gespritzt, hatte hinten ein MG aufmontiert, so fuhr er in Polen und Frankreich. Mein Vater wurde Fahrdienstleiter im Generalkommando; er war ein guter Organisator, doch weiter als bis zum Unteroffizier brachte er es nicht. Vater wollte keine Auszeichnungen. „Was nutzt mir das ,Eiserne Kreuz’ mit Eisen im Kreuz?“

Spuren des Jahrhunderts
Erinnerungen 1914 bis 1989.
Zeitgut Verlag, Berlin.
Taschenbuch-Ausgabe
Preis: 6,90 Euro
ISBN 978-3-86614-217-6,
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Geschichte lesen - Teil 1
Mobile Tücken - Helga Holler erinnert sich
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