Was bedeuten der Abgang von Herbert Diess und der Auftritt von Oliver Blume an der Spitze des VW-Konzerns? 
Darüber  sprach Jens Meiners von Auto-Medienportal.Net mit dem Branchen-Insider  und Vorsitzenden der wissenschaftlichen Gesellschaft für  Kraftfahrzeugtechnik und Motorenbau wkm und Institutsleiter am  Karlsruher Institut für Technologie, Professor Thomas Koch.
Professor Koch, wie bewerten Sie den Wechsel an der Spitze des VW-Konzerns?
Jens Meiners:
Meiner  Einschätzung nach war das der logische, letzte Schritt einer  Entwicklung, die seit Jahren in die falsche Richtung läuft. Er ist  keineswegs überraschend und wurde von vielen erwartet. Denn die Bilanz  von Diess enthält Licht und Schatten. Es war mutig, dass er mit großem  Elan den Ausbau der Elektromobilität vorangetrieben hat. Die nächste  Generation an Fahrzeugen, die zudem auch die Funktion eines lokalen  Energiespeichers einnehmen und durch das bidirektionale System dem  Kunden erlauben, elektrische Energie aus dem Auto in das eigene Haus zu  überführen, wird sicherlich Abnehmer finden. So wird VW auf Augenhöhe  mit dem Wettbewerb interessante Elektrofahrzeuge anbieten. Es war  ebenfalls ein richtiger Schritt, mit Hochdruck die Entwicklung der  eigenen Software-Entwicklung Cariad voranzutreiben. Es ist übrigens bei  der enormen Komplexität der Software nicht verwunderlich, dass die  technischen Herausforderungen Kopfschmerzen bereiten.
Und woran ist er dann gescheitert?
Jens Meiners:
Meines  Erachtens hat Diess neben seinen Verdiensten auch eine Reihe von  Fehlentscheidungen zu verantworten. Beispielsweise die problembehaftete  Markteinführung des VW Golf, immerhin bis heute das wichtigste Modell  des Konzerns. Dazu kommen generelle Qualitätsmängel der VW-Fahrzeuge. Im  Vergleich zur Ära Winterkorn ist zwischenzeitlich der Markenkern  Fahrzeugqualität gerade im Wettstreit mit koreanischen Wettbewerbern  unter die Räder gekommen. Auch der Rückgang des Marktanteils in China  auf ca. elf Prozent ist für Volkswagen problematisch. Doch die aus  meiner Sicht gravierendste Fehlentscheidung war die radikal einseitige  Fokussierung auf die Elektromobilität. Die Konkurrenten Stellantis und  Renault-Nissan haben sich als Massenhersteller eindeutig von einer  solchen Strategie distanziert und einen Plan B von der Politik  gefordert. VW unter Diess aber, als größter deutsche Autokonzern, hat  seinen Markenkern von bezahlbaren und reichweitentauglichen Fahrzeugen  für die Breite der Bevölkerung quasi für die Elektromobilität geopfert.  Was für eine Premiummarke wie Audi möglicherweise noch funktionieren  kann, ist für eine Marke wie VW meiner Meinung nach schlicht nicht  umsetzbar.
Aber es steigen doch auch andere Konzerne aus dem Verbrenner aus, zumindest in Europa.
Jens Meiners:
Das  ist eine letztlich politisch begründete Entscheidung, die man im  Volumenfahrzeugsegment nicht hätte mittragen dürfen. Hierzu muss man  wissen, dass sowohl Volkswagen als auch Audi das Abkommen COP26  'Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor' gar nicht unterschrieben haben.  Gleichzeit hat vor allem Volkswagen in den Automobilverbänden ohne Not  gegen die Firmen argumentiert, die eine Technologiefreiheit und eine  Koexistenz von mehreren Antriebsarten präferierten. Und seitdem sprechen  auch Verbände wie VDA und ACEA nicht mehr mit einer Stimme.
Glauben Sie, dass in diesem Zusammenhang Diess' eindeutige Absage an klimaneutrale e-Fuels ein Fehler war?
Jens Meiners:
Fachleute  hat diese Einstellung zumindest verwundert. Herr Diess hat noch im Juli  2022 betont, dass CO2-neutrale Kraftstoffe für die Masse nicht  bezahlbar seien, obwohl im eigenen Konzern für Pilotanlagen moderate  Kosten von 1 bis 1,5 Euro pro Liter genannt wurden. Vertreter der  Mineralölindustrie stellen bereits 80 Cent pro Liter in Aussicht. Unter  dem Radar hat Volkswagen immerhin den biogenen Dieselkraftstoff HVO für  seine Fahrzeuge freigegeben. Solche Kraftstoffalternativen sind eine  gute Ergänzung zur Elektromobilität. Die Gesamtsystemeffizienz von  beiden Antriebsstrang-Technologien ist vergleichbar. Und es wird nun  interessant sein zu sehen, ob Volkswagen nun e-Fuels auch offiziell noch  einmal neu bewertet. Der neue Konzernchef Oliver Blume hat bei Porsche  immerhin den Einsatz von e-Fuels parallel zur Elektro-Offensive  vorangetrieben.
Wird es Blume leichter fallen, den Tanker Volkswagen zu navigieren?
Jens Meiners:
Blume  kennt jedenfalls den komplizierten Firmenverbund des  Volkswagen-Konzerns auch aus seiner Zeit bei Audi. Er führt sehr  erfolgreich die Marke Porsche, quasi das Juwel des Konzerns. Er genießt  großen Respekt bei den Mitarbeitern, gilt als besonnen, fair,  meinungsstark und trotzdem als guter Teamplayer mit der Fähigkeit zum  Zuhören. Zudem hat er die Wertschätzung vieler Arbeitnehmervertreter,  was ein wichtiges Element bei Volkswagen darstellt.
Alle VW-Chefs  der jüngsten Zeit hatten früher oder später mit dem Diesel-Skandal zu  tun. Wird das auch für Blume eine Baustelle werden?
Jens Meiners:
Der  Aufsichtsrat hat insgesamt aus meiner Sicht eine sehr umsichtige und  weitsichtige Strategie verfolgt. Mit jedem Tag, den Herr Diess länger im  Amt war, konnte seinem Nachfolger ein weniger mit der Vergangenheit  belasteter Start ermöglicht werden. Übrigens erwarten wir in diesem Jahr  die wesentlichen Urteile des europäischen Gerichtshofes zu Kernklagen  im Kontext des Volkswagen-Dieselgates. Am Rande sei hier erwähnt, dass  sich der Sachverhalt in Europa keineswegs so eindimensional, wie  typischerweise behauptet, darstellt und derzeit von den Gerichten eine  hochkomplexe Technologiebewertung vorgenommen wird.
Glauben Sie,  dass der Wechsel an der VW-Spitze auch ein Signal an die Politik ist?  Die verfolgt ja gerade in Sachen Elektro-Strategie eigentlich die  gleichen Ziele wie Diess.
Jens Meiners:
Man muss dabei über den  europäischen Tellerrand hinaussehen. Weltweit betrachtet wird eine  „Elektro-Only“-Strategie, die nur an Ideologie und nicht an Machbarkeit  ausgerichtet ist, scheitern - zumindest im Volumensegment. Es ist meines  Erachtens wichtig für Umweltschutz, Wirtschaft und auch die  Arbeitnehmer, dass wir für Industriestandort Deutschland die Freiheit  der Antriebstechnologien erhalten, denn alle lassen sich klimafreundlich  anwenden. Diese Offenheit scheint nun wieder möglich.
Foto: Auto-Medienportal.Net/KIT
Technologieoffenheit wieder möglich
Interview mit Thomas Koch
Veröffentlicht am: 27.07.2022
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