Genau zehn Jahre nachdem Carl Benz am 2. November 1886 sein Patent für das dreirädrige „Fahrzeug mit Gasmotorenbetrieb“ erhalten hatte, riefen britische Auto-Pioniere am Beginn der Motorisierung in London den „Emancipation Run“ (Emanzipationslauf) ins Leben.
Der Wettbewerb führte von der britischen Metropole über 86 Kilometer ins Seebad Brighton und gilt heute als erstes und damit ältestes Motor-Ereignis der Welt.
Gegebener Anlass war die Feier zur Abschaffung des sogenannten „Locomotive Act“, einem Gesetz, das für motorisierte Fahrzeuge das Tempolimit in Großbritannien auf vier Meilen pro Stunde (6,4 km/h) begrenzte und einen, mit einer roten Flagge voran gehenden Fußgänger vorschrieb. Jetzt begann das Auto sich zu emanzipieren, eine Begleitung war nicht mehr nötig, und die Geschwindigkeitsbegrenzung kletterte auf 14 Meilen in der Stunde (22,5 km/h). Seither wiederholt sich die Veranstaltung jedes Jahr am ersten Sonntag im November, es sei denn, Krieg, Pandemie, Benzinknappheit oder andere Probleme funken ihr dazwischen.
2021 jährt sich der erste London-Brighton-Run zum 125. Mal. Pünktlich bei Sonnenaufgang um 7:08 Uhr am Sonntag, dem 7. November, geht der erste von mehr als 320 Teilnehmern in der Serpentine Road im Londoner Hyde Park auf die für einen Oldtimer ziemlich lange Reise. Zum Hundertjährigen Geburtstag 1996 waren es sogar 680 Fahrzeuge. Selbst eine Auto-Legende aus den USA ist dabei, ein Haynes-Apperson, Baujahr 1903, den allenfalls Oldtimer-Spezialisten kennen dürften, obwohl er zu seiner Zeit zu den frühesten und erfolgreichsten Autos der USA zählte. Eineinhalb Stunden später macht sich auch der letzte Starter auf den Weg zum Ziel auf dem Madeira Drive an der Strandpromenade von Brighton.
Die ersten Oldies dürften kurz nach zehn eintreffen, obwohl sie wie alle anderen eigentlich Zeit bis halb fünf am Abend hätten. Denn beim London-Brighton-Run handelt es sich keineswegs um ein Rennen. Es kommt vielmehr auf das Durchhaltevermögen der betagten Fahrzeuge an, getreu Pierre de Coubertins olympischem Motto „Teilnehmen ist wichtiger als Siegen“. „Das jährliche Gedenken an den Lauf von 1896 ist eine Demonstration von Zuverlässigkeit und Ausdauer, nicht von Geschwindigkeit“, betont als Organisator der britische Royal Automotive Club. Jeder, der es bis um 16:30 Uhr bis Brighton geschafft hat, bekommt als Auszeichnung eine Medaille.
Die Regeln sind simpel. Teilnehmen dürfen ausschließlich Fahrzeuge aus einem Baujahr früher als 1905. Neben vierrädrigen Autos mit Verbrennungsmotor starten auch Dreiräder sowie Dampfwagen und Elektroautos sowie in diesem Jahr auch 15 Fahr- und 15 Motorräder, die ebenfalls mindestens 117 Jahre auf dem Buckel haben müssen.
Bereits am Vortag der Fahrt von London nach Brighton werden mittags rund hundert Teilnehmer während eines Concours d’Elegance am Rand der gleichzeitig stattfindenden Regent Street Motor Show zu bewundern sein. An diesem Samstag gilt die Regent Street als Fußgängerzone vom Piccadilly Circus bis zum Oxford Circus, wo bei der am meisten besuchten Automobilausstellung Großbritanniens kostenlos Fahrzeuge vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Zeiten zu besichtigen sind.
Das Auktionshaus RM Sotheby's als neuer Titelpartner der jährlichen London-Brighton-Veteranenfahrt für das nächste komplette Jahrzehnt wird am Samstagabend eine Oldtimer-Versteigerung von 40 Chromjuwelen aus 90 Jahren Automobilgeschichte durchführen. Jüngster Kandidat ist ein Morgan Plus 4 aus dem Jahr 2019, dessen Wert die Auktionatoren auf 35.000 bis 47.000 Euro schätzen.
Ein Mehrfaches dieser Summe dürften die beiden Kandidaten aus dem Baujahr 1928 einspielen, nämlich ein Mercedes-Benz 630 K Tourer, dessen Schätzpreis zwischen 750.000 und 950.000 Euro liegt, sowie ein gleichalter Bentley 4,5 -Liter Tourer für 375.000 bis 420.000 Euro.
Als Stars der Auktion dürften jedoch ein Ferrari La Ferrari Baujahr 2016 (2,6 Millionen bis 2,95 Millionen Euro), ein Bentley 4,5-Liter Supercharged Tourer von Vanden Plas (4,45 Millionen bis 4,9 Millionen Euro) und ein Jaguar Typ C (4,7 Millionen bis 5,5 Millionen Euro) abschneiden.
Aber teilnehmen am London-Brighton-Run darf keiner der Auktionskandidaten. Diese Ehre bleibt den automobilen Methusalems vorbehalten, die in diesem Jahr auf eine mehr als 117jährige Geschichte zurückblicken können.
Foto: Autoren-Union Mobilität/Royal Automobile Club