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Hannah Arendt

Die Biografie



„Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“

Für Thomas Meyer bilden diese Sätze den Leitfaden seiner Biografie Hannah Arendts. Ihm folgt Meyer, wenn er anhand neuer Quellen ihr Leben und Werk von Königsberg nach New York, von der Dissertation über Augustin bis hin zum unvollendeten Opus magnum „Vom Leben des Geistes“ nachzeichnet und deutet. Seine Biografie beleuchtet die Faszination und die Kritik, die ihre Person und ihre Schriften zeitlebens auslösten, und macht dabei sowohl für Interessierte wie für Kenner das Phänomen „Hannah Arendt“ verständlicher.

Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung. Erstmals werden bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere zuvor ignorierte Dokumente herangezogen, um Arendt in ihrer Zeit dazustellen. Dabei konzentriert sich die Biografie auf zwei Lebensphasen Arendts: die Pariser Jahre nach der Flucht aus Deutschland und die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes „Origins of Totalitarianism“ 1951, auf Deutsch 1955 unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen.

Daraus ergeben sich neue Perspektiven auf Arendts revolutionäres Denken. Thomas Meyers Biografie ist der Ausgangspunkt für eine notwendige Neubewertung von Arendts Leben und Werk.

Thomas Meyer im Interview

Seit wann beschäftigen Sie sich mit Hannah Arendt?
Thomas Meyer:
Einer der Schwerpunkte meines Philosophiestudiums in München bildete das Denken Martin Heideggers. Einige meiner Dozenten hatten den 1976 Verstorbenen noch kennengelernt, fühlten sich vor allem seinem ersten Hauptwerk „Sein und Zeit“ von 1927 und den Schriften zur Technikkritik und den Analysen der griechischen Klassiker verpflichtet. Ob in den Vorlesungen und Seminaren der Name Hannah Arendt fiel? Ich kann mich nicht daran erinnern.

Allerdings: Im alteingesessenen Münchner Antiquariat Kitzinger kaufte ich mir unter anderem eine Erstausgabe von „Eichmann in Jerusalem“. Ich habe die Lektüre dann mehrfach abgebrochen, wie ich zugeben muss. Hannah Arendts Buch stand gegen alles, was ich zuvor über den Holocaust gelesen hatte. Manche Sätze schienen mir skandalös, vieles verstand ich schlicht nicht. Ich ging dem Buch zunächst aus dem Weg.

Und dann kündigten der Piper Verlag und der Frankfurter Klostermann Verlag für 1998 den Briefwechsel Arendts mit Heidegger an. Man wusste zu der Zeit schon, dass die beiden eine Affäre gehabt hatten, und Auszüge der Briefe waren ebenfalls bekannt geworden. Aber die Vorstellung, dass die bedeutende Arendt-Herausgeberin Ursula Ludz eine gesamte Edition vorlegen würde, elektrisierte wohl alle an der Philosophie des 20. Jahrhunderts Interessierten. Und bei weitem nicht nur die. Es folgte ein Anruf von Dr. Hermann Schlüter, dem Leiter des Philosophieprogramms der Volkshochschule München, an der ich Vorträge hielt. Ob ich mit ihm zu Frau Ludz fahren wolle. Er habe die Fahnen der Korrespondenz und wolle mit Frau Ludz und mir den Briefwechsel der Öffentlichkeit vorstellen. Ich sehe mich noch ganz ergriffen auf dem Sofa sitzen, wie ich den beiden Experten zuhörte. Die Fahnen las ich anschließend, wie man so sagt: atemlos. Ich war völlig gefangen, ließ mir von meiner Mitbewohnerin die Fahnen binden und hörte nicht auf, darin zu lesen. Die Veranstaltung war ausverkauft, die Leute saßen um uns herum, die Türen in dem großen Saal waren geöffnet, ich hatte mich wochenlang vorbereitet und wollte Heidegger „entzaubern“, war ganz auf der Seite Arendts. Ob ich etwas verstanden habe von dem, was darinstand? Eher nein. Frau Ludz zeigte sich an dem Abend sehr großzügig mit dem nicht mehr wirklich jungen Ideologiekritiker, der ich damals war.

Seitdem lese ich Arendt, vergaß sie zwischendurch, um mich dann wieder in Seminaren und Vorträgen mit ihr zu beschäftigen, in Israel, der Schweiz und schließlich in den USA. Mit der politischen Instrumentalisierung der angeblichen „Flüchtlingskrise“ 2015 sprachen mich die Essay-Redaktionen vom Bayerischen Rundfunk und vom Deutschlandfunk an, ob es nicht philosophische Gegengifte zu den immer aggressiver werdenden Attacken auf die Entscheidungen der Bundeskanzlerin Merkel gebe. Wir einigten uns auf Hannah Arendts Essay „Wir Flüchtlinge“, dessen anschließende Neuausgabe ein großer Erfolg wurde und der mich in Kontakt mit vielen Menschen brachte. Das wiederholte sich zwei Jahre später mit „Die Freiheit, frei zu sein“, ein bis dahin unbekannter Text Arendts.


Es gibt einige umfangreiche Biografien, die zum Teil seit Jahrzehnten auf dem Markt sind. Was hat Sie bewogen, sich an das große Projekt einer neuen Biografie zu machen?
Thomas Meyer:
Jeder, der sich mit Hannah Arendt beschäftigte, musste die Biografie von Elisabeth Young-Bruehl lesen. Sie war nicht nur ihre Schülerin, wie man so sagt, sondern auch ihre einzige Doktorandin. Übrigens mit einer Dissertation über Karl Jaspers, dem Freund und Lehrer Arendts!

Young-Bruehl fühlte sich mit Arendt verbunden, wie die überlieferten Briefe zeigen. Als Arendt 1975 überraschend starb, entschieden die engsten Vertrauten, dass sie die Biografie schreiben solle. Es gab nämlich zahlreiche Anfragen, teils von sehr berühmten Leuten. Young-Bruehl war enthusiastisch, hatte beste Beziehungen zu den Freundinnen, Freunden und Bekannten Arendts in aller Welt, und man versprach ihr eine exklusive Nutzung des Nachlasses. Sie konnte noch viele Dokumente einsehen, die heute nicht mehr existieren. Heraus kam ein unglaublich intimes Porträt, das nicht zuletzt von den Erinnerungen der Interviewpartner lebte und das verstehen ließ, warum Arendt bereits zu ihren Lebzeiten so viele Menschen faszinierte – und warum sie so umstritten war.

Jeder, der über Arendt schreibt, ist Young-Bruehl verpflichtet. Die Forschung hat dann natürlich in den folgenden Jahren vieles ergänzt, korrigiert oder verworfen. Später haben so bekannte Arendt-Fachleute wie Laure Adler, Antonia Grunenberg, Kurt Sontheimer und Thomas Wild wichtige Biografien vorgelegt.

Als ich Ihre Frage erstmals gestellt bekam, schien mir die Antwort eindeutig auszufallen. Doch ich fing an, in Archive zu gehen, und nach und nach entstand ein Bild, das ich bisher nicht kannte. Ich war irritiert und zugleich entschlossen, den neuen Eindrücken auf den Grund zu gehen. Weniger die unübersehbare Aktualität war es schließlich, die mich die neue Biografie schreiben ließ. Vielmehr wollte ich die Hannah Arendt deutlicher zeichnen, die im Laufe ihres Lebens sehr genau Auskunft über sich selbst gegeben hatte. Arendt war nämlich beides, Biografin – und Autobiografin. Letzteres vergisst man leicht, obwohl das Gespräch mit dem Journalisten Günter Gaus von 1964 auf YouTube bereits Millionen Zuschauer anzog. Ich habe es oft gesehen, aber mir war lange nicht klar, dass sie darin den Schlüssel eingeschmuggelt hatte für die Deutung der Biografien anderer: „Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken.“

Das heißt natürlich nicht, dass Arendts Werk sich anhand ihres Lebens erklärt. Das ist genau der Vorwurf, den Philosophen Biografen seit der Antike machen. Vielmehr lässt sich an diesem Satz verstehen, warum Arendt Leben als die einzige verfügbare Grundlage des Denkens ansah. Und dass der Zugang zum Leben – auch zum eigenen – nur über das Denken führt. Wobei Denken für Arendt immer Handeln ist, immer in der Welt stattfindet, im Austausch mit sich selbst, mit anderen, in der Öffentlichkeit, sichtbar in der Geschichte.


In diesen Zeiten sind Hannah Arendts Schriften weiterhin sehr nachgefragt. Was würden Sie einem jüngeren Menschen empfehlen: Warum sollte man heute Hannah Arendt lesen, und was wäre ein guter Einstieg?
Thomas Meyer:
Nun, in der Tat sind ihre Texte heute noch relevant, Hannah Arendt wurde von ihrem kürzlich verstorbenen Freund Richard J. Bernstein sogar die „Denkerin der Stunde“ genannt. Als Donald Trump 2016 zum 45. Präsidenten der USA gewählt wurde, stieg Arendts erstes Hauptwerk „Origins of Totalitarianism “ auf Platz 1 der Bestsellerliste und war sogar zeitweise nicht lieferbar. Das 65 Jahre alte Werk schien den Menschen die Zeit zu erklären, die mit Trump begann. Auch in Deutschland wurde das Buch, das hier „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ heißt, stark nachgefragt.

Doch zum Einstieg dürfte sich dieses Werk, das tatsächlich aus drei Büchern besteht, kaum eignen. Arendt war eine Meisterin des Essays. Auf „Wir Flüchtlinge“ hatte ich bereits hingewiesen. Doch das ist nur eine Möglichkeit, sich Arendt zu nähern. „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? “ ist nicht nur durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine Frage, die sich viele junge Menschen stellen, die nicht verstehen, was da vor sich geht. Das gilt auch für den Text „Ideologie und Terror“, den Arendt 1952 verfasste. „Wahrheit und Politik“ wäre ein weiterer Artikel, mit dem man beginnen könnte.


War also Hannah Arendt ausschließlich mit der „dunklen Seite der Geschichte“ (Yehuda Bauer) beschäftigt?
Thomas Meyer:
Keineswegs! Sie konnte loben, wie kaum ein anderer Denker von Format, und so sind ihre Texte etwa über Karl Jaspers auch eine gute Einführung in sein Werk. Wie sie überhaupt häufig andere ins Rampenlicht stellt. So in ihrer Biografie über Rahel Varnhagen, dem Buch, das vielleicht am meisten von ihr selbst enthält. Wobei ich mir damit schon fast selbst widerspreche – in jedem Falle kann man sich dem Sog der Lebensbeschreibung kaum entziehen.
Seit 2020 lege ich gemeinsam mit geschätzten Kolleginnen und Kollegen eine Studienausgabe von Arendts Werken in Ihrem Verlag vor, die sowohl für Arendt-Anfänger, gerade jüngere, wie Experten geeignet ist. Wir setzen dieses erfolgreiche Projekt mit vielen neuen Bänden demnächst fort.

Sie haben sehr viele neue Quellen gesichtet und viel bisher Unbekanntes entdeckt. Können Sie uns einen Blick in die Werkstatt gewähren? Was wird die Arendt-Kenner überraschen?
Thomas Meyer:
Ein guter Detektiv verrät natürlich seine geheimen Quellen nicht! Aber ich kann Ihnen gerne eine kleine Geschichte erzählen. Eine Kennerin von Hannah Arendts Leben und Werk fragte mich einmal bei einem Abendessen „Warum hat Arendt eigentlich in ihren Exiljahren in Paris nichts geschrieben?“ Dort lebte sie seit ihrer Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland von 1933 bis 1940. Und wer sich mit Arendt auch nur ein klein wenig beschäftigt und versucht hat, einen Überblick über ihre Schriften zu gewinnen, der muss in der Tat staunen, dass es so gut wie nichts aus dieser Zeit gibt. Inzwischen ist dieser Eindruck von Arendt selbst bestätigt worden. Nur wenige Monate, nachdem sie in Lissabon das rettende Schiff in die USA bestiegen hatte und im Mai 1941 in New York angekommen war, schrieb sie einem Freund: „Ich habe seit 1933 nichts mehr geschrieben!“

Arendt wäre nicht Arendt gewesen, wenn sie nicht auch hier ein wenig geflunkert hätte. Sie beherrschte wirklich alle Tricks. In diesem Fall kann ich behaupten, dass ich ihr auf die Schliche gekommen bin, wenn Sie so wollen. Und was ich da auf einmal lesen konnte, hat mein Bild dieser Frau völlig verändert. Eigentlich ist meine Biografie nichts anderes als ein Buch über diese Entdeckung und mein noch immer andauerndes Staunen …

Hannah Arendt
Autor: Thomas Meyer
Verlag: Piper
Preis: 28,00 Euro
IBAN: 978-3-492-05993-0

 


Veröffentlicht am: 10.10.2023

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