
(Gudrun  Findeisen, Nordholz/Deichsende, Landkreis Cuxhaven, Niedersachsen;  1950) Eine Zeitlang mieteten meine Eltern Lesemappen, und ich Leseratte  las und las. Das war wohl zu viel des Guten oder auch weniger Guten, was  ich da in mich hineinlas, und so wurden die Lesemappen wieder  abbestellt. Vorher leisteten sie mir aber noch einen guten Dienst.
Eines  Tages – ich muß zehn oder elf Jahre alt gewesen sein – drückte mir mein  Vater eine Zeitschrift (ich meine, es war die „Constanze“) in die Hand  mit den Worten: „Hier, lies das bitte! Und wenn du Fragen hast, dann  frag!“
Es war, soweit ich mich erinnere, der erste  Aufklärungsbericht für Kinder, der in einer Illustrierten abgedruckt  worden war. Natürlich war mir zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, daß  die Kinder nicht vom Klapperstorch gebracht werden. Unmittelbar nach  unserer Flucht hatte eine junge Frau in dem Haus, in dem wir auf engstem  Raum einquartiert waren, ein Baby bekommen, und außerdem ist  Dorfkindern, die mit Tieren aufwachsen, vieles zu diesem Thema vertraut.  Nun aber war auf dem Schulhof einiges für mich Ungereimtes an mein Ohr  gedrungen.
Wie fortschrittlich und einfühlsam war mein Vater!  Gewiß nicht nur, weil er Lehrer war. Durch seine Umsicht wurde meine  Neugier nun in kindgemäßer Weise gestillt, und ich sah – zusätzlich mit  den nötigen Erklärungen von meiner Mutter ausgerüstet – meinem nächsten  Lebensabschnitt als Mädchen vertrauensvoll entgegen. Meinem jeweiligem  Alter entsprechend, gab mir mein Vater in den folgenden Jahren weiterhin  Beratungsbücher.
Dann war da noch die Geschichte mit den  Luftballons. Eines Morgens brachte eine Mitschülerin einen ganzen  Schwung Luftballons mit in die Schule und verteilte sie großzügig.  Luftballons!
Wir Kinder auf dem Dorf bekamen solche Schätze in der  Nachkriegszeit selten zu Gesicht. Wir staunten! „Wo gab es denn die, wo  hast du die her?“
„Na, aus dem Nachtschrank der Eltern!“
Keines  der Kinder – wir müssen zehn, elf und zwölf Jahre alt gewesen sein –  wußte über solche Luftballons Bescheid, jedenfalls gab es keine  Kommentare, und wir ließen unsere Luftballons fröhlich auf dem Schulhof  schweben.
Waren ja etwas blaß diese Dinger! Bunt wären sie hübscher gewesen!
Aber wir waren ja bescheiden.
Stolz  trug ich meinen Schatz nach Hause und wunderte mich über die Reaktion  meiner Mutter und der großen Schwester, die ich in der Küche vorfand.
Wieso kicherten die? Und wieso meinte meine Mutter, damit solle ich man lieber nicht spielen?
Ich war enttäuscht, muß dann aber doch eine plausible Erklärung bekommen haben, denn ich entsorgte das Kondom bereitwillig.
Am  nächsten Morgen in der Schule sorgten unsere Luftballons noch für  genügend Gesprächsstoff unter uns Kindern. Ob sich neun Monate nach  diesem „Luftballontag“ bei den Eltern des Mädchens, das so großzügig den  Vorrat an „Luftballons“ verteilte, Nachwuchs eingestellt hat, ist mir  nicht bekannt. Und ob sich diese Geschichte vor oder nach der  väterlichen Aufklärungsaktion abgespielt hat, weiß ich heute auch nicht  mehr. Es spielt aber auch keine Rolle; denn es ist nicht anzunehmen, daß  man damals meinte, zehnjährige Kinder über Kondome aufklären zu müssen –  es sei denn, es gab einen Anlaß wie diesen dazu. Aber selbst dann  hielten die meisten Eltern es damals nicht für nötig oder genierten  sich, ihre Kinder darüber aufzuklären. – Was hatte ich für ein Glück! 
Schlüssel-Kinder
Kindheit in Deutschland 1950-1960
Zeitgut Verlag Berlin  
Preis: 12,90 Euro
ISBN: 3-86614-156-4
Bild:  „So gefällst Du mir. Gespräch mit einem jungen Mädchen über Schönheit  und Gesundheit.“ – So sah zum Beispiel eine der Schriften aus, die mir  mein Vater später zu lesen gab.
Aufklärung
Geschichte aus "Schlüssel-Kinder" vom Zeitgut-Verlag
Veröffentlicht am: 13.07.2022
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