
(Görmar bei Mühlhausen, Thüringen, Herbst 1941) Tante Elschen, die jüngste Schwester meiner Mutter, war meine Lieblingstante. Was habe ich nicht alles von ihr bekommen, darunter so Manches, was es längst nicht mehr zu kaufen gab. Zum Beispiel einen Geschenkkarton mit duftenden Cremes von Kaloderma, einer berühmten Marke zu jener Zeit. Mein erstes figurbetontes Sommerkleid mit Faltenvolant aus „Crepe de Chine“ war auch von ihr. Und die honiggelben Wildlederschuhe – mit hohem Absatz, versteht sich!
Zwar stammte alles aus ihrem Kleiderschrank, dessen Inhalt jedoch noch aus Friedenszeiten. Für eine Dreizehnjährige war das ein echter Schatz, obwohl ich in beides erst hineinwachsen mußte. Ganz davon abgesehen, war Tante Elschen die Einzige, die mich für voll nahm und als werdende Frau sah. Sie war es auch, die mir die Wahrheit sagte, als ich sie mit zehn fragte, warum Mama einen so dicken Bauch habe. Selbst Papa hatte es nicht vermocht. Er lächelte nur über meine Frage und meinte: „Sie ißt zu viele Thüringer Klöße!“ Dabei war mein Schwesterchen Elsbeth unterwegs. Tante Elschen schenkte mir reinen Wein ein, und damit endete auch mein Glaube an den Klapperstorch.
Ach ja, Tante Elschen, sie war so lieb und hatte immer Zeit für mich. Dabei waren es für sie selbst beileibe keine guten Zeiten. Sie war nur kurze Zeit glücklich mit Onkel Walter, den ich auch sehr geliebt habe. Er brachte mir so schöne Kinderbücher aus der Buchhandlung in Mühlhausen mit, in der er tätig war. Doch dann begann der Krieg, und er mußte schon bald an die Front. Ich werde ihn nie vergessen, diesen gutaussehenden, lebensfrohen Mann. Sie waren ein solch schönes Paar!
Doch nun zu dem unheimlichen Geschehen, von dem meine Tante mir berichtete und das ich hier versuche wiederzugeben:
Es war wohl im Herbst des Jahres 1941. Mein Onkel war seit dem Winter 1940 eingezogen, doch das Band zwischen den jungen Eheleuten war keineswegs zerschnitten. Liebesbriefe flogen hin und her, solange es irgendwie ging und die Feldpost es schaffte. Die letzten kamen von der Ostfront und wurden immer spärlicher. Jedoch auch in Gedanken waren sich die Liebenden sehr nahe, jedenfalls fühlte es sich für meine Tante so an, besonders in der Nacht, wenn die Erinnerung an die glückliche Zweisamkeit in ihren Träumen Gestalt annahm. Manchmal glaubte sie sogar, ihren Mann neben sich atmen zu hören. Es war schon eine außerordentlich innige Verbundenheit zwischen beiden. Zudem war ja da noch das schönste Pfand ihrer Liebe: das Söhnchen, das ihnen zu Anfang des Jahres geschenkt worden war. So nahm also das Leben seinen Lauf, und die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges und auf eine glückliche Heimkehr hielt alles halbwegs aufrecht ... bis die Feldpostbriefe ganz ausblieben. Von der Front kommend, waren sie zuletzt nur sehr kurz gewesen. Verständlich, daß man dort keine Zeit zum Schreiben hatte. Die Sorgen und Ängste um den geliebten Mann aber wurden immer größer. Doch noch immer verspürte Else diese innere Verbindung. „Er lebt“, dachte sie, „ich fühle es!“
Da geschah in jener Herbstnacht etwas Seltsames: Der Kleine schlief – wie so oft, seit Walters Weggang – im Ehebett neben ihr, und nur sein Weinen hatte bisher ihren kurzen Schlaf gestört. Plötzlich war da ein rumpelndes, unheimliches Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Knall! Es kam aus der sogenannten guten Stube. Else fuhr entsetzt hoch aus dem Schlaf. „Walter?“, stammelte sie und wußte selbst nicht, warum. Angstschlotternd schlich sie an die halbgeöffnete Durchgangstür und erst, als sich nichts rührte, machte sie Licht. Natürlich: Walter war es nicht. Gott sei Dank, aber auch keine Einbrecher! Nur ein auffallend kahler Fleck dort an der Wand, wo Onkel Walters holzgerahmtes Bild als Soldat gehangen hatte. Auch das Bild darunter, Tante Elschen mit Bräutigam und der gesamten Hochzeitsgesellschaft, lag auf dem Fußboden. Das war vollkommen unbeschädigt, während das Glas von Walters Bild in tausend Scherben lag!
Auch Elses Welt lag in Scherben, und eine unheimliche Leere breitete sich in ihr aus. Mit einer furchtbaren Gewißheit wußte sie: Er ist tot!
Alle Tröstungen der Verwandtschaft erreichten sie nicht. Statt dessen kam – nach geraumer Zeit – die Nachricht: Gefallen für Führer und Vaterland! Es war beim Dienst an der „Pack“, einer Panzerabwehrkanone, geschehen. Ein Volltreffer sei es gewesen und genau zu dieser Zeit und Stunde, da sein Bild von der Wand krachte!
Soweit also die wahre Geschichte meiner Tante. Nun mag man nach plausiblen Erklärungen suchen und der Wechselwirkung von Ursache und Wirkung nachsinnen. Für meine Tante war es allemal klar: Der „Bildersturz“ war die letzte Nachricht meines Onkels gewesen, und wer will schon bestreiten, daß es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die wir einfach nicht erklären können mit unserem kleinen Menschenverstand? Und das ist vielleicht auch gut so!

Zwölf Särge und kein Toter
Zeitgut Verlag
Preis: 10,90 Euro
ISBN: 978-3-86614-263-3
Foto: Tante Elschens Hochzeitsgesellschaft 1937. Ich stehe als Blumenmädchen rechts neben Onkel Walter
ACHTUNG: Alle Zeitgut-Bücher werden bis Ende 2025 kostenfrei versendet!
Geschichte lesen - Teil 2
Die letzte Nachricht - Babette Reineke
Veröffentlicht am: 24.11.2025
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